Gottes Werk und Teufels Beitrag
ihnen ragte – stundenlang, wie es schien – ein Berg mit einem indianischen Namen auf, der mitten im Juli Schnee auf dem Gipfel hatte.
»Dorthin fahren wir, Homer!« erzählte Grant Winkle dem Jungen. »Direkt unter all dem Schnee gibt es einen See.«
»Die Elche sind ganz verrückt auf den See«, erzählte Billy Homer. »Und auch du wirst ganz verrückt sein auf den See.«
Homer zweifelte nicht daran. Es war ein Abenteuer. Dr. Larch hatte gesagt, daß er nicht bleiben müsse.
Ehe es dunkel wurde, schlugen die Winkles das Nachtlager auf. Zwischen der einzelnen Fahrspur und dem dahinbrausenden Wasser bauten sie ein Zelt auf, mit drei Kammern darin. In einer der Kammern zündeten sie einen Kocher an, und in einer anderen Kammer machte Billy hundert Rumpfbeugen (Homer hielt ihr die Füße fest), während Grant Bachforellen fing. Der Abend war so kühl, daß es keine Mücken gab und sie die Lampen bei offenen Zeltklappen brennen lassen konnten, als es längst dunkel war. Grant und Billy erzählten Abenteuergeschichten. (In sein Tagebuch schrieb Dr. Larch später: »Was, zum Teufel, sollten sie auch sonst erzählen?«)
Grant erzählte von dem sechzigjährigen Rechtsanwalt, der sie angeheuert hatte, weil er bei der Geburt eines Bären dabeisein wollte. Billy zeigte Homer die Bärentatzennarben. Dann erzählte Grant von einem Kunden, der die Winkles gebeten hatte, ihn auf dem Meer auszusetzen, in einem kleinen Boot – mit einem einzigen Ruder. Dieser Mann wollte wissen, wie man überlebt und wie man sich dabei fühlt. Er wollte herausfinden, ob er es allein an Land zurückschaffen könnte, wobei die Winkles ihn allerdings im Auge behalten und im Notfall retten sollten. Der Trick dabei war, den Mann nicht wissen zu lassen, daß er beobachtet wurde. In der Nacht – wenn der alte Esel einschlief und aufs Meer hinaustrieb – schleppten die Winkles ihn vorsichtig zur Küste zurück. Am nächsten Morgen aber – einmal sogar in Sichtweite des Landes – brachte der Mann es doch tatsächlich fertig, erneut verlorenzugehen. Am Ende mußten sie ihn retten, als sie ihn dabei ertappten, wie er Salzwasser trank; er war so enttäuscht, daß er ihnen mehrere faule Schecks gab, bevor er schließlich seine Abenteuergebühr entrichtete.
»Abenteuergebühr«, so nannte es Billy.
Homer dachte, es könnte seinen künftigen Adoptiveltern peinlich sein, wenn er ihnen Geschichten vom Leben in St. Cloud’s erzählte – oder gar vom Erntedankfest in Waterville. Er meinte, auch etwas zum Lagerfeuergeist dieses Abenteuers beitragen zu müssen, aber die einzigen guten Geschichten, die er kannte, waren Große Erwartungen und David Copperfield. Dr. Larch hatte ihm erlaubt, das Exemplar von Große Erwartungen – Homers Lieblingsbuch – mitzunehmen. Homer fragte die Winkles, ob er ihnen etwas aus seiner Lieblingsgeschichte vorlesen dürfe. »Liebend gerne«, sagten sie; sie könnten sich nicht erinnern, daß ihnen je jemand vorgelesen hätte. Homer war ein bißchen nervös; sooft er Große Erwartungen auch gelesen hatte, vorgelesen hatte er noch nie.
Aber er las wunderbar vor! Er meisterte sogar Joe Gargerys Akzent, wie er ihn sich vorstellte, und als er zu der Stelle kam, wo Mr. Wopsle »Nein!« ausruft – »mit der schwachen Bosheit eines erschöpften Mannes« –, da spürte Homer, daß er die richtige Tonlage für die ganze Geschichte gefunden hatte – er spürte, daß er vielleicht auch sein erstes Talent entdeckt hatte. Leider aber hatte sein Vorlesen, talentiert wie er war, die Winkles rasch in den Schlaf gewiegt. Homer las weiter, leise für sich, bis zum Schluß des siebten Kapitels. Vielleicht liegt es gar nicht an meinem Vorlesen, dachte Homer; vielleicht liegt es an den Winkles – an all ihren Rumpfbeugen, all seinem Forellenfangen, all der unbändigen Wildheit dieser zweifellos imposanten Freiluftmenschen.
Homer versuchte den Schlafsack der Winkles – einen einzigen großen Sack – behaglich über sie zu breiten. Er blies die Lampen aus. Er ging in seine eigene Kammer und schlüpfte in seinen eigenen Schlafsack. Er lag mit dem Kopf zur offenen Zeltklappe; er sah die Sterne; er hörte das tosende Wasser nahebei. Es erinnerte ihn nicht an Three Mile Falls, denn der Bach hier war ganz anders als jener Fluß. Er war genauso reißend, aber er floß durch eine tiefe, enge und blitzsaubere Schlucht mit ausgewaschenen Steinen und glitzernden Tümpeln, wo Grant die Forellen gefangen hatte. Homer stellte sich nicht ungern
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