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Gottes Werk und Teufels Beitrag

Gottes Werk und Teufels Beitrag

Titel: Gottes Werk und Teufels Beitrag Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: John Irving
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Männer in Tennis-Weiß, entweder der Chadwick oder der Cabot. Er wirkte verdrossen, oder vielleicht hatte er eben einen Streit mit Miss Channing-Peabody gehabt, oder vielleicht hätte er lieber selbst neben ihr gesessen. Womöglich ist’s nur ihr Bruder, und er wünscht sich, er säße weiter weg von ihr, dachte Wilbur Larch.
    Das Mädchen sah unwohl aus. Inmitten dieser Familie von Sonnengebräunten fiel ihre Blässe besonders auf; sie stocherte in ihrem Essen. Es war eines jener Dinners, wo mit jedem neuen Gang das gesamte Geschirr ausgewechselt wurde, und während die Konversation abglitt und aussetzte, oder zumindest abflaute, wurde das Geklapper von Porzellan und Silberbestecken lauter und die Spannung an der Dinner-Tafel spürbarer. Es war keine durch ein bestimmtes Gesprächsthema verursachte Spannung, sondern eine Spannung, die durch das Fehlen überhaupt eines Gesprächsthemas entstand.
    Der ziemlich senile Chirurg im Ruhestand, der Wilbur zur anderen Seite saß – er war entweder ein Channing oder ein Peabody –, schien enttäuscht, als er hörte, daß Larch Gynäkologe sei. Dennoch beharrte der alte Knabe darauf, Dr. Larchs bevorzugte Methode zur Austreibung der Plazenta in den unteren Genitaltrakt zu erfahren. Wilbur Larch versuchte – leise – dem Dr. Peabody oder Dr. Channing, oder wer immer er sein mochte, die Austreibung der Plazenta in den unteren Genitaltrakt zu schildern, doch der alte Herr war schwerhörig und bat den jungen Larch, doch lauter zu sprechen! Ihre Unterhaltung, die an der Dinner-Tafel die einzige Unterhaltung war, wechselte also zu den Verletzungen des Perineums – einschließlich der Methode, den Kopf des Babys zurückzuhalten, um einem Dammriß vorzubeugen – und der korrekten mediolateralen Inzision zur Vornahme einer Episiotomie, wenn ein Dammriß unmittelbar zu drohen scheint.
    Wilbur Larch wurde bewußt, daß Missy Channing-Peabodys Haut neben ihm die Farbe wechselte. Von Milchweiß über Senfgelb zu Frühlingsgrasgrün und beinah wieder zurück zu Milchweiß, bevor sie in Ohnmacht fiel. Ihre Haut war ganz kalt und feucht, und als Wilbur Larch sie anschaute, sah er, daß sie die Augen fast ganz in den Kopf hinauf verdreht hatte. Ihre Mutter und der verdrossene junge Mann in Tennis-Weiß, der Cabot oder der Chadwick, schleppten sie hastig vom Tisch – »Sie braucht Luft«, verkündete Mrs. Channing-Peabody, aber Luft war in Maine keine Mangelware.
    Wilbur Larch wußte bereits, was Missy brauchte. Sie brauchte eine Abtreibung. Es wurde ihm klar durch die sichtliche Verärgerung des jungen Chadwick oder Cabot, es wurde ihm klar bei der sabbernden Senilität des alten Chirurgen, der sich nach »modernen« gynäkologischen Verfahren erkundigte, es wurde ihm klar durch das Fehlen jeder anderen Unterhaltung und durch den Lärm der Messer und Gabeln auf den Tellern. Das war der Grund, warum er eingeladen worden war: Missy Channing-Peabody, an morgendlicher Übelkeit leidend, brauchte eine Abtreibung. Auch reiche Leute brauchten sie. Selbst reiche Leute, die nach Wilbur Larchs Meinung die letzten waren, die irgend etwas erfuhren, selbst reiche Leute kannten ihn. Er wollte gehen, aber nun hielt ihn sein Schicksal fest. Manchmal, wenn wir gezeichnet sind, wenn wir gebrandmarkt sind, wird unser Brandmal unsere Berufung; Wilbur Larch fühlte sich berufen. Der Brief der Prostituierten aus St. Cloud’s war unterwegs zu ihm, und er würde dorthin gehen, aber zuerst war er aufgerufen, hier seine Pflicht zu tun.
    Er stand vom Tisch auf. Die Männer wurden in einen besonderen Raum geschickt – zu den Zigarren. Die Frauen hatten sich um irgendein Baby versammelt – eine Pflegerin oder Gouvernante (eine Dienstbotin, dachte Wilbur Larch) hatte es ins Speisezimmer gebracht, und die Frauen wollten einen Blick darauf werfen. Auch Wilbur Larch warf einen Blick darauf. Die Frauen machten ihm Platz. Das Baby sah rosig und fröhlich aus, etwa drei Monate alt, aber Dr. Larch bemerkte das Zangenmal an seiner Wange: eine eindeutige Vertiefung, sie würde eine Narbe hinterlassen. Ich kann bessere Arbeit leisten, dachte er.
    »Ist das nicht ein herziges Baby, Doktor Larch?« fragte ihn eine der Frauen.
    »Das Zangenmal ist ein Jammer«, sagte Larch, und das stopfte ihnen allen den Mund.
    Mrs. Channing-Peabody führte ihn in die Halle hinaus. Er ließ sie vorausgehen in das Zimmer, das für ihn vorbereitet war. Auf dem Weg sagte sie: »Wir haben dieses kleine Problem.«
    »Im wievielten Monat ist

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