Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Gottes Werk und Teufels Beitrag

Gottes Werk und Teufels Beitrag

Titel: Gottes Werk und Teufels Beitrag Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: John Irving
Vom Netzwerk:
– noch für einige Zeit sollte es bei dem Zahlenverhältnis bleiben: eine Abtreibung auf drei Geburten. Im Lauf der Jahre fiel es dann auf eins zu vier, später auf eins zu fünf.
    Während des Ersten Weltkriegs, als Wilbur Larch eingezogen wurde und nach Frankreich mußte, führte der stellvertretende Arzt am Waisenhaus keine Abtreibungen durch; die Geburtenrate kletterte, die Zahl der Waisen verdoppelte sich, aber der Vertretungsarzt sagte zu Schwester Edna und Schwester Angela, daß er auf diese Erde gestellt sei, das Werk Gottes zu verrichten, nicht das des Teufels. Diese wacklige Unterscheidung sollte sich später als nützlich für Schwester Angela und Schwester Edna erweisen und für Dr. Wilbur Larch, der seinen lieben Schwestern aus Frankreich schrieb, daß er den wahren Beitrag des Teufels mit eigenen Augen gesehen habe: Der Teufel arbeitete mit Kugeln und Granatsplittern, mit Schrapnell und mit kleinen verschmutzten Tuchfetzen, die mit einem Geschoß in die Wunde getragen wurden. Der Beitrag des Teufels war die Gasbazilleninfektion, jene Geißel des Ersten Weltkriegs – Wilbur Larch sollte nie vergessen, wie sie bei Berührung knisterte.
    »Sagen Sie ihm«, schrieb Larch an Schwester Angela und Schwester Edna, »sagen Sie diesem Narren (er meinte seinen Stellvertreter), daß die Arbeit an einem Waisenhaus in allem Gottes Werk ist – alles, was ihr tut, tut ihr für die Waisen, ihr rettet sie!«
    Und als der Krieg vorbei war und Wilbur Larch nach St. Cloud’s heimkehrte, hatten Schwester Edna und Schwester Angela sich bereits an die für St. Cloud’s richtige Ausdrucksweise gewöhnt – Gottes Werk und Teufels Beitrag, so nannten sie nun ihre Arbeit, nur um für sich auseinanderzuhalten, welche Operation wann ausgeführt werden sollte. Wilbur Larch übernahm sie – es war eine nützliche Ausdrucksweise –, aber beide Schwestern stimmten mit Larch überein: daß alles, was sie ausführten, das Werk Gottes war.
    Erst im Jahre 193– stießen sie auf ihr erstes Problem. Sein Name war Homer Wells. So oft zog er aus in die Welt und kehrte zurück nach St. Cloud’s, daß es notwendig wurde, ihm Arbeit zu geben; um die Zeit, wenn ein Junge zum Teenager wird, sollte er sich nützlich machen. Doch würde er das kapieren? fragten sich die Schwestern und Dr. Larch. Homer hatte gesehen, wie die Mütter kamen und gingen und ihre Babys zurückließen, aber wie lange noch, bis er anfing, Köpfe zu zählen – und erkannte, daß da mehr Mütter kamen und gingen, als Babys zurückgelassen wurden? Wie lange noch, bis ihm auffiel, daß nicht alle Mütter, die nach St. Cloud’s kamen, sichtbar schwanger waren – und manche von ihnen nicht einmal über Nacht blieben? Sollten sie es ihm sagen? fragten sich die Schwestern und Dr. Larch.
    »Wilbur«, sagte Schwester Edna, während Schwester Angela die Augen verdrehte, »der Junge geht im Haus aus und ein – er wird es von selbst herausfinden.«
    »Er wird mit jeder Minute älter«, sagte Schwester Angela. »Er lernt mit jedem Tag etwas Neues.«
    Allerdings ließen sie niemals die Frauen, die sich von der Abtreibung erholten, im gleichen Zimmer ausruhen wie die jungen Mütter, die ihre Kräfte sammelten, um ihre Babys zurückzulassen; das konnte sogar ein Kind beobachten. Und Homer Wells hatte oft die Aufgabe, die Abfalleimer zu leeren – alle Abfalleimer, auch die Abfalleimer aus dem Operationssaal, die wasserdicht waren und geradewegs zum Verbrennungsofen gebracht wurden.
    »Wie, wenn er in einen Abfalleimer schaut, Wilbur?« fragte Schwester Edna Dr. Larch.
    »Wenn er alt genug ist, um hinzuschauen, ist er alt genug, um zu lernen«, erwiderte Dr. Larch.
    Vielleicht meinte Larch: wenn er alt genug ist, um zu erkennen, was es zu sehen gab. Nach dem Werk Gottes oder nach dem Beitrag des Teufels, war das, was in den Abfalleimern war, oftmals dasselbe. In den meisten Fällen: Blut und Schleim, Baumwolle und Mull, Plazenta und Schamhaar. Beide Schwestern sagten Dr. Larch, daß es nicht nötig sei, eine Patientin für eine Abtreibung zu rasieren, aber Larch war pingelig; und wenn es schon alles das Werk Gottes war, so dachte er, mag es auch gleich aussehen. Die Abfalleimer, die Homer Wells zum Verbrennungsofen zu tragen pflegte, enthielten die Geschichte von St. Cloud’s: die abgeschnittenen Fadenenden der Seiden- und Catgutnähte, Fäkalstoffe und Seifenlauge von den Einläufen und das, wovon Schwester Edna und Schwester Angela fürchteten, daß Homer Wells es sehen

Weitere Kostenlose Bücher