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Gottes Werk und Teufels Beitrag

Gottes Werk und Teufels Beitrag

Titel: Gottes Werk und Teufels Beitrag Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: John Irving
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nun den anderen, mit ihren Augen seinen Blick zu erhaschen. Mit gleicher Post wie seinen Katalog chirurgischer Instrumente von Fred Halsam & Co. erhielt er ein Exemplar von Mrs. W. H. Maxwells Eine Ärztin an die Damen der Vereinigten Staaten. Bis Ende 187– hatte Mrs. Maxwell eine Frauenklinik in New York geführt. »Die Verfasserin hat ihr Hospiz nicht einfach zum Nutzen der Gebärenden begründet«, schrieb sie. »Sie vertritt die Auffassung, daß es angesichts der Unbarmherzigkeit der gesamten Gesellschaft gegen die Irrenden wohl angebracht ist, den Unglücklichen eine Zuflucht zu gewähren, in deren Schatten sie sich ungestört besinnen können und, indem sie ihr gegenwärtiges Elend für immer verbergen, sich aufraffen und in Zukunft klüger sein werden. Das Herz des wahren Arztes kann nicht weit und gütig genug sein.«
    Wilbur Larch sah sehr wohl, daß das South End gnadenlos voll war von Beweisen der Unbarmherzigkeit gegen die Irrenden und daß er, aus der Sicht der Irrenden, zur Zuflucht geworden war.
    Statt dessen floh er. Er kehrte nach Hause zurück, nach Maine. Er bewarb sich bei der Amtsärztekammer des Staates Maine um eine nützliche Tätigkeit in der Gynäkologie. Während nun also eine Stellung in einer unterentwickelten Gemeinde für ihn gesucht wurde, fand man Gefallen an seinem Harvard-Diplom und machte ihn schleunigst zum Mitglied der Kammer. Wilbur Larch erwartete seine neue Berufung in seiner alten Heimatstadt Portland, jenem sicheren Hafen mit der alten Bürgermeistervilla, wo er seine Kindheit verbracht, und der salzigen Fremdenpension, wo er sich von Mrs. Eames seine Dosis fürs Leben eingefangen hatte.
    Er fragte sich, ob er das South End vermissen würde: die Handleserin, die ihm versichert hatte, er würde lange leben und viele Kinder haben (»Zu viele, um sie zu zählen!«), was Larch als Bestätigung auffaßte, daß er, indem er Gynäkologe werden wollte, die richtige Wahl getroffen hatte. Würde ihm der Kartenleger fehlen, der ihm als jungem Spund vorhergesagt hatte, daß er niemals in die Fußstapfen seines Vaters treten werde, was Wilbur Larch, der sich weder in Drechselbänken auskannte noch Spaß am Trinken hatte und der überzeugt war, daß seine Leber nicht die Schuld an seinem letztendlichen Untergang tragen würde, durchaus recht war; und konnte er ohne den chinesischen Kräuterdoktor sein, der ihm erzählt hatte, er könne den Tripper kurieren, indem er zerstoßene grüne Blätter und Brotschimmel auf seinen Penis verteilte. Der Quacksalber hatte beinah recht. Das Chlorophyll in den Pflanzen konnte in der Tat die Bakterien vernichten, die das Gangrän verursachten, aber gegen die sich voreinander verbeugenden Tänzer in den Eiterzellen, jene munteren Gonokokken, die er einst unterm Mikroskop beobachtet hatte, war es machtlos. Anders das aus gewissen Brotschimmelsorten gewonnene Penizillin! Jahre später sollte Larch träumen, daß, hätten nur Dr. Harold Ernst, der Bakteriologe und Drallball-Pitcher von der Harvard Medical School, und der chinesische Kräuterdoktor aus dem South End ihre Köpfe zusammengesteckt … nun, was hätten sie dann kuriert?
    »Sie hätten Waisen kuriert«, schrieb Dr. Larch, als er aus dem Traum erwachte.
    Und die Waisen des South End: Wilbur Larch erinnerte sich an die aus den Zweighospitälern der Bostoner Entbindungsanstalt. Damals 189– waren weniger als die Hälfte der Mütter verheiratet. In der Gründungsurkunde des Instituts stand geschrieben, daß »ausschließlich verheiratete Frauen, oder jüngst verwitwete, und von anerkannt gutem moralischem Charakter« als Patientinnen aufgenommen würden. Die mildtätigen Bürgergruppen, die anfangs Tausende von Dollars aufgebracht hatten, um ein Entbindungsspital für die Armen bereitzustellen … sie hatten darauf beharrt; in Wahrheit aber wurde eine jede aufgenommen. Es gab eine erstaunliche Anzahl von Frauen, die Witwen zu sein behaupteten oder behaupteten, mit Seeleuten auf fernen Meeren verheiratet zu sein – mit der Great Eastern davongefahren, pflegte Wilbur Larch sich vorzustellen.
    Wieso eigentlich, fragte er sich, gab es in Portland keine Waisen, keine Kinder und Frauen in Not? Wilbur Larch fühlte sich nicht sehr nützlich in der ordentlichen Stadt Portland; und komischerweise war, während er darauf wartete, irgendwohin geschickt zu werden, wo er gebraucht wurde, gerade der Brief einer Prostituierten – zum Thema verlassene Frauen und Waisen – aus St. Cloud’s unterwegs an

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