Gottes Werk und Teufels Beitrag
Sicherheitsnadel auf und stach Larch in die Hand. Nachdem sie gegangen war, steckte er das Höschen in seine Jackentasche.
Er führte die Mutter und ihre Tochter durch den Raum, der sonst stets nur so brauste vor Gesang, aber der Chor machte gerade eine Bierpause. Der magere, kahlköpfige Dirigent tauchte hinter seinem schäumenden Krug auf und sah Larch und die beiden Frauen an; ein Schnurrbart aus Schaum weißte seine Oberlippe, und auf seiner Nasenspitze leuchtete ein weißer Schaumklecks. Der Dirigent hob seinen Krug gegen Dr. Larch und brachte einen Toast aus. »Preiset den Herrn!« rief er. »Machen Sie nur weiter mit der Rettung dieser armen Seelen, Doc!«
»Danke schön!« rief der Chor ihm nach. Natürlich konnten sie nicht Mahlers Kindertotenlieder gesungen haben, und doch hatte Wilbur Larch sie gerade gehört.
»In anderen Teilen der Welt«, schrieb Dr. Wilbur Larch bei seiner Ankunft in St. Cloud’s, »ist die Fähigkeit, zu handeln, bevor man nachdenkt – aber gleichwohl richtig zu handeln –, entscheidend. Vielleicht wird es hier in St. Cloud’s mehr Zeit zum Überlegen geben.«
In Boston hatte er geglaubt, er sei ein Held; doch er sollte es nicht lange durchhalten – als Held. Er nahm das junge Mädchen und dessen Mutter mit in die Zweigstelle Süd. Den Assistenten wies er an, niederzuschreiben: »Es handelt sich um ein dreizehnjähriges Mädchen. Ihr Becken mißt nur dreieinhalb Zoll im Durchmesser. Zwei frühere schwere Geburten haben ihre Weichteile verletzt und eine Geschwulst unnachgiebigen Narbengewebes hinterlassen. Dies ist ihre dritte Schwangerschaft infolge von Inzest – infolge von Vergewaltigung. Sollte sie das Kind austragen, so kann sie nur durch Kaiserschnitt entbunden werden, der – angesichts der zarten gesundheitlichen Verfassung des Kindes (denn das ist sie noch), ganz zu schweigen von ihrer seelischen Verfassung – gefährlich wäre. Daher habe ich mich entschieden, eine Abtreibung vorzunehmen.«
»Haben Sie das wirklich?« fragte der Diensthabende.
»Ganz recht«, sagte Wilbur Larch – und der Anästhesist sagte: »Wir machen es sofort.«
Die Abtreibung dauerte zwanzig Minuten; die Kollegen beneideten Larch um seine leichte Hand mit dem Äther. Er nahm die Dilatatoren mit den Douglass-Stiften und sowohl eine mittlere wie eine kleine Kürette. Es gab natürlich keine Geschwulst unnachgiebigen Narbengewebes; es gab keine verletzten Weichteile. Dies war eine Erst-, keine Drittschwangerschaft, und auch wenn sie ein kleines Mädchen war, hatte ihr Becken gewiß mehr als dreieinhalb Zoll Durchmesser. Diese fiktiven Details, die Wilbur Larch dem Assistenten angegeben hatte, sollten den Bericht des Assistenten überzeugender machen. Keiner an der Bostoner Entbindungsanstalt stellte jemals Larchs Entscheidung, diese Abtreibung durchzuführen, in Frage – niemand erwähnte sie je, aber Larch merkte wohl, daß sich etwas verändert hatte.
Er merkte, wie die Gespräche bei seinem Eintreten verstummten. Er nahm eine allgemeine Zurückhaltung wahr; auch wenn er nicht direkt geschnitten wurde, wurde er doch nie eingeladen. Er speiste allein in einem nahe gelegenen deutschen Restaurant; er aß Schweinshaxe mit Sauerkraut, und eines Abends trank er ein Bier. Es erinnerte ihn an seinen Vater; es war Wilbur Larchs erstes und letztes Bier.
Zu diesem Zeitpunkt seiner Existenz schien Wilbur Larch bestimmt für ein Leben der ersten und letzten Male: eine sexuelle Erfahrung, ein Bier, eine Abtreibung. Mehr als eine Erfahrung aber hatte er mit dem Äther, und die Nachricht, daß es eine Alternative zu Mrs. Santa Claus und den »abseits von Harrison« praktizierten Methoden gab, machte im South End rasch die Runde. Erstmals angesprochen wurde er, als er an einem Obsthändlerkarren stand und einen frischgepreßten Orangensaft trank; eine große hagere Frau mit einer Einkaufstasche und einem Wäschekorb tauchte neben ihm auf.
»Ich bin nicht quick«, flüsterte die Frau Wilbur Larch zu. »Was ist der Preis? Ich bin nicht quick, ich schwör’s.« Von da an fanden sie ihn, wenn sie wollten. Schläfrig sagte er in der Zweigstelle Süd immer wieder zu dem einen oder anderen Kollegen: »Ich bin doch nicht an der Reihe, oder?« Und jedesmal war die Antwort dieselbe: »Sie sagt, Sie wären ihr Arzt.«
Als Kind des Staates Maine war Wilbur Larch es gewöhnt, den Leuten ins Gesicht und in die Augen zu schauen; jetzt sah er zu Boden oder beiseite; wie ein Großstadtmensch überließ er es
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