Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Gottes Werk und Teufels Beitrag

Gottes Werk und Teufels Beitrag

Titel: Gottes Werk und Teufels Beitrag Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: John Irving
Vom Netzwerk:
der Bussard zum Sturzflug an. Die Schlange kämpfte nicht gegen die Strömung, sie schoß mit ihr dahin und suchte jenen Winkel zu finden, der sie sicher unter das abgewaschene Ufer oder ins überwucherte Brackwasser führen würde.
    »Paß auf, Sonnenstrahl«, sagte Melony. Gute zehn Meter vom Ufer entfernt packte der Bussard die schwimmende Schlange und trug sie, die sich wand und zustieß, empor. »Ich will dir noch etwas anderes zeigen«, sagte Melony, ihre Aufmerksamkeit schon wieder vom Himmel abgewandt, jetzt, wo das Ergebnis klar war.
    »Richtig«, sagte Homer Wells – ganz Auge, ganz Ohr. Anfangs schien es, als vereitelten das Gewicht der Schlange und ihre Bewegungen den Aufstieg des Bussards, doch je höher der Bussard stieg, desto leichter flog er – als sei weiter oben auch die Luft leichter als die Luft da unten, wo die Schlange ihr Leben gefristet hatte.
    »Sonnenstrahl!« rief Melony ungeduldig. Sie führte ihn in das alte Gebäude hinein und die Treppe hinauf in eine der dunkleren Schlafkammern. Der Raum roch bewohnt – womöglich von jemand Lebendem –, aber es war zu dunkel, um die von Mäusen wimmelnden Matratzen oder gar einen menschlichen Körper zu sehen. Melony stemmte einen Fensterladen auf, der nur in einer Angel hing, und kniete sich auf eine Matratze vor einer Wand, die der offene Fensterladen ans Licht gebracht hatte. Genau über dem ehemaligen Kopfende des Bettes hing eine alte Photographie; die Heftzwecke war verrostet und hatte eine Rostspur über die Sepiatöne des Photos geblutet.
    Homer hatte sich auf seinem Rundgang durch die Räume auch andere Photographien angesehen, doch diese hier mußte er übersehen haben. Alle anderen waren Babybilder gewesen und Bilder von Müttern und Vätern, wie er vermutete – jene Sorte Familienphotographien, die für Waisen immer interessant sind.
    »Komm, sieh dir das an, Sonnenstrahl«, sagte Melony. Sie versuchte, die Heftzwecke mit ihrem Fingernagel loszuzupfen, aber die Heftzwecke hatte seit Jahren dort gesteckt. Homer kniete sich neben Melony auf die faulige Matratze. Er brauchte eine Weile, bis er begriff, was auf der Photographie eigentlich dargestellt war; möglich, daß er abgelenkt wurde, weil ihm aufging, daß er Melony körperlich nicht mehr so nah gewesen war, seit er bei seinem letzten Dreibein-Wettlauf an sie gefesselt gewesen war.
    Als Homer begriff, was auf der Photographie war (wenn auch nicht, warum), hatte er Mühe, die Photographie länger anzusehen, besonders mit Melony neben sich. Andererseits wollte er nicht als Feigling dastehen, wenn er wegschaute. Die Photographie war ein Beleg für jene Beschönigungen der Realität, wie sie in vielen photographischen Ateliers um die Jahrhundertwende ins Werk gesetzt wurden; das Bild war eingerahmt von falschen Wolken, von einem feierlichen Trauernebel; die Akteure schienen ihren sonderbaren Akt in einem sehr eleganten Himmel oder einer ähnlich eleganten Hölle auszuführen.
    Homer tippte eher auf die Hölle. Die Akteure waren eine langbeinige junge Frau und ein stämmiges Pony. Die nackte Frau lag mit ihren langen Beinen hingeräkelt auf einem Teppich – einem wild verschlungenen Perser- oder Orientteppich (Homer kannte den Unterschied nicht) – und über ihr stand breitbeinig das Pony. Sein Kopf war geneigt, wie beim Saufen oder beim Grasen, direkt über dem sehr umfangreichen Schamhaarbüschel der Frau; der Gesichtsausdruck des Ponys war leicht kamerascheu oder verschämt, vielleicht auch einfach nur dumm. Der Penis des Ponys schien länger und dicker zu sein als Homers Arm, doch die athletisch wirkende junge Frau verdrehte den Hals und hatte genügend Kraft in ihren Armen und Händen, um den Penis des Ponys zu ihrem Mund zu biegen. Ihre Wangen waren aufgebläht, als habe sie zu lange den Atem angehalten; ihre Augen quollen hervor; doch ihr Gesichtsausdruck blieb undurchdringlich, und man konnte nicht sagen, ob die Frau nun platzen wollte vor Lachen oder ob sie am Penis des Ponys zu ersticken drohte. Das zottige Gesicht des Ponys dagegen war voll gespielter Gleichgültigkeit – die gelassene Pose strapazierter Würde der Kreatur.
    »Glückliches Pony, hm, Sonnenstrahl?« stichelte Melony, aber Homer Wells spürte einen Schauder durch seine Lenden rinnen, während er plötzlich den Photographen vor sich sah, wie er Frau, Pony, Himmelswolken und Höllenqualm zu einem üblen Arrangement verquickte. Die Nebel von Nirgendwo, jedenfalls nicht von dieser Welt, stellte Homer sich vor.

Weitere Kostenlose Bücher