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Gottes Werk und Teufels Beitrag

Gottes Werk und Teufels Beitrag

Titel: Gottes Werk und Teufels Beitrag Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: John Irving
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Schneewehen, die im Winter durch die Räume fegten, ging der Uringestank einfach nicht weg.
    Eines Tages hatte die schwache Frühlingssonne eine schwarze, vor Kälte ganz träge Schlange dazu verleitet, sich auf den Bodenbrettern der Veranda zu wärmen. Mit einem warnenden: »Paß auf, Sonnenstrahl!« und einer für ein so dickes Mädchen überraschenden Behendigkeit packte Melony die schlafende Schlange hinter dem Kopf. Es war eine Milchschlange – fast drei Fuß lang, und sie ringelte sich um Melonys Arm, aber Melony hielt sie auf die richtige Art, straff, hinter dem Kopf, ohne sie zu würgen. Nachdem sie sie gefangen hatte, schien sie ihr keine Beachtung mehr zu schenken; sie suchte den Himmel nach irgendeinem Zeichen ab und sprach weiter mit Homer Wells.
    »Dein Lieblingsdoktor, Sonnenstrahl«, sagte Melony, »weiß mehr über dich als du selbst. Möglicherweise auch mehr über mich als ich.«
    Homer ließ das auf sich beruhen. Er war vor Melony auf der Hut, besonders jetzt, wo sie eine Schlange hatte. Sie könnte mich genauso schnell packen, dachte er. Sie könnte mir mit der Schlange etwas tun.
    »Denkst du manchmal an deine Mutter?« fragte Melony, die immer noch den Himmel absuchte. »Wünschst du dir manchmal, du wüßtest, wer sie war, warum sie dich nicht behalten hat, wer dein Vater war – weißt du, solche Sachen?«
    »Richtig«, sagte Homer Wells, der die Schlange im Blick behielt. Sie ringelte sich um Melonys Arm; dann wickelte sie sich ab und hing wie ein Strick; dann machte sie sich dicker und dünner, ganz von alleine. Zaghaft tastete sie sich um Melonys breite Hüfte und schlang sich dann vertrauensselig um ihre dicke Taille – sie reichte gerade herum.
    »Mir hat man erzählt, ich sei vor der Tür ausgesetzt worden«, sagte Melony. »Vielleicht, vielleicht auch nicht.«
    »Ich bin hier geboren«, sagte Homer Wells.
    »Das hat man dir erzählt«, sagte Melony.
    »Mir hat Schwester Angela einen Namen gegeben«, führte Homer an.
    »Schwester Angela oder Schwester Edna hätten dir auch einen Namen gegeben, wenn du ausgesetzt worden wärst«, sagte Melony. Sie suchte noch immer den Himmel ab und würdigte die Schlange keines Blickes. Sie ist größer als ich, sie ist älter als ich, sie weiß mehr als ich, dachte Homer Wells. Und sie hat eine Schlange, ermahnte er sich selbst und ließ Melonys letzte Bemerkung auf sich beruhen.
    »Sonnenstrahl«, sagte Melony geistesabwesend. »Denk mal darüber nach: Wenn du hier in St. Cloud’s geboren wärst, müßte es eine Urkunde darüber geben. Dein Lieblingsdoktor weiß, wer deine Mutter ist. Er muß ihren Namen in den Akten haben. Du wirst schriftlich festgehalten, auf Papier. Das ist ein Gesetz.«
    »Ein Gesetz«, wiederholte Homer Wells matt.
    »Es ist Gesetz, daß es eine Urkunde über dich geben muß«, sagte Melony. »Schriftlich – eine Urkunde, eine Akte. Du bist Geschichte, Sonnenstrahl.«
    »Geschichte«, echote Homer Wells. Er sah in seiner Vorstellung Dr. Larch an der Schreibmaschine in Schwester Angelas Büro sitzen; falls es Urkunden gab, dann mußten sie dort zu suchen sein.
    »Falls du wissen willst, wer deine Mutter ist«, sagte Melony, »brauchst du nur nachzusehen. Du brauchst nur in deiner Akte nachzusehen. Du könntest auch meinetwegen nachsehen, wenn du schon dabei bist. Ein fixer Leser wie du, Sonnenstrahl, sieht das auf den ersten Blick. Und das wäre ein interessanterer Lesestoff als Jane Eyre. Allein meine Akte ist viel interessanter, da möchte ich wetten. Und wer weiß, was in deiner steht?«
    Homer vergaß vorübergehend die Schlange und spähte durch ein Loch in den Bodendielen der Veranda vorbeischwimmendem Unrat nach; ein abgebrochener Ast vielleicht oder ein Männerstiefel – oder gar ein Männerbein – wurde im Fluß vorbeigeschwemmt. Als er ein pfeifendes Geräusch vernahm, wie von einer Peitsche, bereute er, seine Augen von der Schlange abgewandt zu haben; er zog den Kopf ein; Melony konzentrierte sich noch immer auf den Himmel. Sie ließ die Schlange um ihren Kopf kreisen und kreisen, doch ihre Aufmerksamkeit war ganz auf den Himmel gerichtet – nicht auf irgendein Zeichen, das dort aufgetaucht wäre, sondern auf einen Rotschulterbussard. Er hing über dem Fluß, in jenem träge wirkenden, spiraligen Schwebeflug der Bussarde, wenn sie Jagd machen. Melony ließ die Schlange über den Fluß hinaussegeln, der Bussard folgte ihr; noch bevor die Schlange im Wasser aufschlug und um ihr Leben zu schwimmen begann, setzte

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