Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Gottes Werk und Teufels Beitrag

Gottes Werk und Teufels Beitrag

Titel: Gottes Werk und Teufels Beitrag Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: John Irving
Vom Netzwerk:
gekommen (in der Hoffnung, auch wieder früh zu gehen), traf aber das Schlafquartier der Mädchen in Aufruhr. Viele der Mädchen waren noch nicht im Bett – und fingen bei seinem Anblick an zu kreischen; Homer sah ihre nackten Beine und blieb verlegen unter der hängenden Glühbirne im Gemeinschaftsschlafraum stehen; suchend blickte er sich nach Mrs. Grogan um, die immer nett zu ihm war, während er sein Exemplar von Jane Eyre mit beiden Händen fest umklammerte – als könnten die ausgelassenen Mädchen es ihm entreißen.
    Er bemerkte, daß Melony bereits in ihrer gewohnten Stellung und in ihrem gewohnt knappen Gewand dasaß. Er begegnete ihrem durchdringenden, aber undurchdringlichen Blick und sah zu Boden, oder beiseite, oder auf seine Hände, die immer noch Jane Eyre umklammerten.
    »He, du«, hörte er Melony zu ihm sagen, worauf die anderen Mädchen sofort still wurden. »He, du«, wiederholte Melony. Als er zu ihr aufblickte, kniete sie auf ihrem Bett und reckte ihm den größten nackten Arsch entgegen, den er je gesehen hatte. Ein blauer Schatten (vielleicht eine Prellung) verfärbte einen von Melonys angespannten Schenkeln; zwischen den quellenden, gespreizten Backen ihres einschüchternden Hinterns starrte ein einzelnes schwarzes Auge auf Homer Wells. »He, Sonnenstrahl«, sagte Melony zu Homer, der rot wurde wie die Sonne bei Sonnenaufgang oder Sonnenuntergang. »He, Sonnenstrahl«, schmachtete Melony ihn süßlich an – und gab dem Waisenkind Homer Wells somit ihren speziellen Namen für ihn: Sonnenstrahl. Als Homer Dr. Larch erzählte, was Melony ihm getan hatte, fragte sich Dr. Larch, ob es eine kluge Entscheidung gewesen war, Homer in der Mädchenabteilung vorlesen zu lassen. Ihn andererseits von der Aufgabe zu entbinden, wäre einer Art Degradierung gleichgekommen, und Larch wollte verhindern, daß Homer sich als Versager fühlte. Die Arbeit in einem Waisenhaus erfordert sehr entschlossenes Handeln; wenn Wilbur Larch sich hinsichtlich Homer Wells’ unentschlossen fühlte, dann weil er ganz natürliche väterliche Gefühle entwickelt hatte. Der Gedanke, daß er es sich gestattet hatte, Vater zu werden, und unter typisch väterlicher Unentschlossenheit litt, deprimierte Dr. Larch so sehr, daß er im wohltuenden Frieden des Äthers Zuflucht suchte, an den er sich stetig mehr gewöhnte.
    Es gab keine Vorhänge in St. Cloud’s. Die Spitalapotheke lag in einem Eckraum, mit je einem Fenster nach Süden und einem nach Osten, und nach Schwester Ednas Ansicht war es das Ostfenster, das Dr. Larch zu einem solchen Frühaufsteher machte. Das schmale, weißeiserne Spitalbett sah immer unbenützt aus; Dr. Larch war als letzter im Bett und als erster auf – was das Gerücht beförderte, er schlafe überhaupt nie. Sofern er überhaupt je schlief, dann nur in der Apotheke, darüber war man sich einig. Seine Schreibarbeit erledigte er nachts, auf der Schreibmaschine in Schwester Angelas Büro. Die Schwestern hatten längst vergessen, warum dieses Zimmer Schwester Angelas Büro genannt wurde; es war der einzige Büroraum von St. Cloud’s, und Dr. Larch hatte es seit jeher für seine Schreibarbeit benützt. Vielleicht wollte er sich mit der Feststellung, daß das Büro eigentlich jemand anderem gehörte, dafür entschuldigen, daß er die Apotheke zu seinem Schlafplatz erkoren hatte.
    Die Apotheke hatte zwei Türen (von denen die eine zu Toilette und Dusche führte), was in einem so kleinen Raum einiges Kopfzerbrechen in puncto Einrichtung verursacht hatte. Bei einem Fenster am südlichen Ende und an der östlichen Wand und je einer Tür nach Norden und Westen gab es keine Wand, vor die man etwas stellen konnte; das spartanische Bett paßte unter das Ostfenster. Die abgeschlossenen und versperrten Schränke mit ihren zerbrechlichen Glastüren bildeten einen lästigen Irrgarten rund um den Apothekertisch in der Mitte des Zimmers herum; natürlich mußten in einer Apotheke die Medikamente und Ätherflaschen und die Instrumente für Kleinchirurgie möglichst allgemein zugänglich sein, aber für Larch waren andere Gründe bei der Einrichtung ausschlaggebend gewesen. Der Irrgarten von Schränken in der Mitte des Zimmers ließ nicht nur Platz vor den Türen zu Toiletten und Korridor, er schirmte das Bett auch gegen Blicke von der Korridortür her ab, die, wie alle Türen im Waisenhaus, kein Schloß hatte.
    Die wild vollgestopfte Apotheke bot ihm ein wenig Privatsphäre für seine Ätherausschweifung. Larch liebte das

Weitere Kostenlose Bücher