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Gottes Werk und Teufels Beitrag

Gottes Werk und Teufels Beitrag

Titel: Gottes Werk und Teufels Beitrag Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: John Irving
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den Unterschied, oder vielmehr kam Homer durch sein eignes scheinheiliges Treiben darauf, daß Dr. Larch ihn beobachtete. Wann immer Homer jedenfalls spätnachts auf Zehenspitzen zu Schwester Angelas Büro hinunterschlich, saß Dr. Larch an der Schreibmaschine – und merkte regelmäßig, wenn Homer vorsichtig den Korridor entlang schlich.
    »Kann ich etwas für dich tun, Homer?« fragte Dr. Larch dann.
    »Kann nur nicht schlafen«, antwortete Homer dann.
    »Ist doch nichts Neues?« pflegte Dr. Larch zu fragen.
    Schrieb der Mann denn die ganze Nacht? Tagsüber ging es in Schwester Angelas Büro geschäftig zu – es war der einzige Raum für Besprechungen und Telephongespräche. Es war auch voll von Dr. Larchs Papieren – seiner Korrespondenz mit anderen Waisenhäusern, mit Adoptionsagenturen, mit zukünftigen Eltern; seinem bemerkenswerten (wenn auch manchmal schalkhaften) Tagebuch, seinem Miszellenjournal, das er Eine kurze Geschichte von St. Cloud’s nannte. Diese war nicht mehr »kurz«, und sie wurde täglich länger – jede Eintragung getreulich beginnend mit: »Hier in St. Cloud’s …« oder: »In anderen Teilen der Welt …«
    Zu Dr. Larchs Papieren gehörten auch umfangreiche Familiengeschichten – aber nur von solchen Familien, die Waisen adoptierten. Entgegen Melonys Überzeugung wurden keine Urkunden über die wirklichen Mütter und Väter der Waisen aufbewahrt. Die Geschichte einer Waise begann mit dem Datum ihrer Geburt: Ihr Geschlecht, ihre Länge in Inches, das Gewicht in Pfunden, der von den Schwestern verliehene Name (falls es ein Junge war) oder der Name, den Mrs. Grogan oder die Sekretärin der Mädchenabteilung verliehen hatten (falls es ein Mädchen war) sowie ein Verzeichnis der Krankheiten und Impfungen der Waise – das war alles.
    Eine wesentlich dickere Akte wurde über die Adoptionsfamilien der Waisen geführt; Dr. Larch legte Wert darauf, soviel wie möglich über diese Familien in Erfahrung zu bringen.
    »Hier in St. Cloud’s«, schrieb er, »versuche ich mit jeder Regel, die ich aufstelle oder verletze, daran zu denken, daß meine erste Priorität die Zukunft einer Waise ist. So geschieht es zum Beispiel für ihre oder seine Zukunft, daß ich alle Urkunden über die Identität ihrer oder seiner natürlichen Mutter vernichte. Die unglücklichen Frauen, die hier entbinden, haben eine sehr schwere Entscheidung getroffen; sie sollten in ihrem späteren Leben diese Entscheidung nicht noch einmal fällen müssen. Und in fast allen Fällen sollte den Waisen eine spätere Suche nach ihren leiblichen Eltern erspart bleiben; gewiß sollten die Waisen in der Regel nicht erfahren müssen, wer ihre leiblichen Eltern waren.
    Ich denke an sie, immer nur an sie – nur an die Waisen! Natürlich werden sie es eines Tages wissen wollen; zumindest werden sie neugierig sein. Aber was hilft es, sich auf die Vergangenheit zu freuen? Wie wäre den Waisen gedient, müßten sie sich auf ihre Vergangenheit freuen? Gerade Waisen müssen sich auf ihre Zukunft freuen.
    Und wäre einer Waise damit gedient, wenn ihre oder seine leibliche Mutter in späteren Jahren die Entscheidung bereute, hier entbunden zu haben? Gäbe es irgendwelche Urkunden, dann könnten die leiblichen Eltern ihre Kinder immer aufspüren. Es ist nicht mein Geschäft, Waisen mit ihren biologischen Anfängen wiederzuvereinen! Dies ist das Geschäft der Märchenerzähler. Mein Geschäft ist es, für die Waisen dazusein.«
    Diesen Abschnitt aus Eine kurze Geschichte von St. Cloud’s zeigte Wilbur Larch Homer Wells, als er ihn in Schwester Angelas Büro dabei ertappte, wie er seine Papiere durchstöberte.
    »Ich habe nur etwas gesucht, konnte es aber nicht finden«, stotterte Homer.
    »Ich weiß, was du suchst, Homer«, sagte Dr. Larch zu ihm, »und es ist nicht zu finden.«
    Das war’s, was der Zettel besagte, den Homer Melony zusteckte, als er am Abend zum Vorlesen in die Mädchenabteilung kam. Jeden Abend hatten sie ein wortloses Ritual aufgeführt: Melony pflegte ihren Finger in den Mund zu schieben – so weit, daß ihre Augen wie bei der Frau mit dem Pony dramatisch hervortraten –, und Homer Wells schüttelte immer nur den Kopf zum Zeichen, daß er noch nicht gefunden hatte, wonach er suchte. Der Zettel mit den Worten »Nicht zu finden« rief einen Ausdruck tiefen Argwohns in Melonys rastlosem Mienenspiel hervor.
    »Homer«, hatte Dr. Larch gesagt, »ich erinnere mich nicht an deine Mutter. Ich erinnere mich nicht einmal an dich, als

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