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Gottes Werk und Teufels Beitrag

Gottes Werk und Teufels Beitrag

Titel: Gottes Werk und Teufels Beitrag Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: John Irving
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Gewicht dieser Viertelpfundflasche! Äther ist eine Frage der Erfahrung und Technik. Ätherschnüffeln ist stechend, aber leicht, auch wenn Äther doppelt so schwer ist wie Luft; Äthernarkosen zu geben – einem Patienten über die Panik vor diesem erdrückenden Geruch hinwegzuhelfen – ist etwas anderes. Seinen empfindlicheren Patientinnen gab Larch vorab fünf oder sechs Tropfen Orangenöl. Für sich selbst brauchte er kein aromatisches Vorgeplänkel, keine fruchtige Verschleierung. Er war sich immer des Pochens bewußt, das die Ätherflasche machte, wenn er sie neben dem Bett auf den Boden stellte; er war sich nicht immer bewußt, in welchem Augenblick sich der Griff seiner Finger um die Maske lockerte; der Trichter rutschte ihm – allein durch sein Atmen – vom Gesicht. Meistens spürte er, wie die Hand, die den Trichter hielt, erschlaffte; seltsamerweise war diese Hand der erste Teil von ihm, der erwachte und nach der Maske griff, die nicht mehr da war. Meistens hörte er die Stimmen draußen vor der Apotheke – falls sie ihn riefen. Er vertraute darauf, daß ihm immer genug Zeit blieb, um sich zu erholen.
    Es brauchte nur ein fragendes »Doktor Larch?« von Schwester Angela oder Schwester Edna oder Homer Wells, um Larch von seiner Ätherreise zurückzuholen.
    »Ja, hier!« pflegte Larch zu antworten. »Ruhe mich nur aus.«
    Es war immerhin die Apotheke; riechen die Apotheken von Chirurgen nicht immer nach Äther? Und war es bei einem Mann, der so hart arbeitete und so gut wie nie schlief, nicht natürlich, daß er gelegentlich ein Nickerchen machen mußte?
    Es war Melony, die Homer zum erstenmal zu verstehen gab, daß Dr. Larch gewisse ausgefallene Gewohnheiten und eigenartige Kräfte besaß.
    »Hör mal, Sonnenstrahl«, sagte Melony zu Homer, »wie kommt es, daß dein Lieblingsdoktor keine Frau anschaut? Es ist so – glaub mir. Er schaut nicht einmal mich an, und mich schaut jedermann an, Männer wie Jungs, überall und jederzeit. Sogar du, Sonnenstrahl. Auch du.« Aber Homer schaute weg.
    »Und was ist das für ein Geruch, den er mit sich herumschleppt?« fragte Melony.
    »Äther«, sagte Homer Wells. »Er ist Arzt. Er riecht nach Äther.«
    »Willst du etwa behaupten, das sei normal?« fragte ihn Melony.
    »Richtig«, sagte Homer Wells.
    »Wie ein Milchfarmer?« fragte Melony verschlagen. »Der angeblich nach Milch und Kuhmist riecht, richtig?«
    »Richtig«, sagte Homer Wells vorsichtig.
    »Falsch, Sonnenstrahl«, sagte Melony. »Dein Lieblingsdoktor riecht, als ob er Äther in sich hätte – Äther statt Blut.«
    Homer ließ das auf sich beruhen. Der Scheitel seines dunklen Schopfes reichte Melony gerade bis zur Schulter. Sie spazierten das gerodete ausgewaschene Flußufer entlang, das an den Teil von St. Cloud’s grenzte, dessen verlassen daliegende Gebäude für immer ausgestorben waren; der Fluß hatte hier nicht nur das Ufer ausgewaschen, sondern auch die Fundamente der Gebäude, die in manchen Fällen keine richtigen Fundamente oder auch nur Kellergruben hatten –; manche dieser Gebäude ruhten auf Pfosten, die blank und morsch im nagenden Wasser am Flußufer standen.
    Homers und Melonys Lieblingsgebäude hatte eine Veranda, die ursprünglich nicht dazu ausersehen war, auf den Fluß hinauszuragen, auch wenn sie das jetzt tat; durch die zerbrochenen Bodendielen der Veranda konnten Homer und Melony das blutergußfarbene Wasser vorbeibrausen sehen.
    Das Gebäude hatte rauhen Männern, die in den Sägemühlen und auf den Holzhöfen des alten St. Cloud’s arbeiteten, als notdürftige Unterkunft gedient; für die Bosse oder auch nur für die Vorarbeiter der Ramses-Papierfabrik war es nicht stilvoll genug, sie logierten im Hurenhotel. Es war ein Gebäude für Sägewerker, für Stapler und Lagerarbeiter – für Männer, die die Balkenstockungen auflösten und die Balken flußabwärts trifteten, die die Baumstämme und das geschnittene Bauholz über Land fuhren; Männer, die in den Fabriken arbeiteten.
    Meistens blieben Homer und Melony draußen vor dem Gebäude, auf der Veranda. Drinnen gab es nur eine leere Gemeinschaftsküche und die zahllosen schäbigen Schlafkojen – die zerschlissenen, von Mäusen verseuchten Matratzen. Wegen der Eisenbahn waren Tippelbrüder ein und aus gegangen, die ihr Territorium markierten wie Hunde, indem sie rundherum pißten und so ihren Besitzanspruch auf die am wenigsten von Mäusen verseuchten Matratzen anmeldeten. Trotz der kaputten Fensterscheiben und der

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