Gottes Werk und Teufels Beitrag
Flüchtig und wie verwackelt erschien vor Homers innerem Auge das Bild des Dunkelkammergenies, das dieses Schauspiel inszeniert hatte. Was Homer länger blieb, war seine Vision von dem Mann, der auf dieser Matratze geschlafen hatte, wo er jetzt mit Melony kniete und dessen Götzen anbetete. Das Bild, unter dem irgendein Holzknecht aufzuwachen beschlossen hatte, wobei Pony und Frau auf dem Porträt dem Mann gleichsam die Familie ersetzten. Am qualvollsten war für Homer die Vorstellung des erschöpften Mannes in der Schlafbaracke in St. Cloud’s, der sich zu dieser Frau und diesem Pony hingezogen fühlte – mangels freundlicherer Bilder –, der keine Babybilder, keine Bilder der Eltern, der Frau, der Geliebten, des Bruders oder eines Freundes zum Aufhängen hatte.
Trotz aller Qual konnte Homer Wells seinen Blick nicht von der Photographie wenden. Mit überraschend mädchenhafter Behutsamkeit zupfte Melony noch immer an der rostigen Heftzwecke – auf so rücksichtsvolle Art, daß sie Homer nie den Blick auf das Bild verstellte.
»Falls ich das verdammte Ding von der Wand kriege«, sagte sie, »schenk ich’s dir.«
»Ich will es nicht«, sagte Homer Wells, aber er war sich nicht sicher.
»Natürlich willst du«, sagte Melony. »Das ist nichts für mich. Ich interessiere mich nicht für Ponys.«
Als sie endlich die Heftzwecke aus der Wand gepult hatte, stellte sie fest, daß sie sich den Fingernagel gebrochen und das Deckhäutchen eingerissen hatte; ein dünner Klecks ihres Blutes tropfte auf die Photographie – und trocknete rasch zu einer bräunlichroten Farbe, ähnlich der Rostspur, die sich von der Mähne des Ponys bis über die Schenkel der Frau herabzog. Melony steckte den Finger mit dem gebrochenen Nagel in den Mund und reichte Homer Wells die Photographie.
Melony ließ ihren Finger ein wenig über die Unterlippe gleiten und drückte ihn gegen ihre unteren Zähne. »Du kapierst es, nicht wahr, Sonnenstrahl?« fragte sie Homer Wells. »Du siehst, was die Frau mit dem Pony macht, richtig?«
»Richtig«, sagte Homer Wells.
»Wie würde es dir gefallen, wenn ich mit dir dasselbe machen würde wie die Frau mit dem Pony?« fragte ihn Melony. Sie schob ihren Finger bis zum zweiten Fingerglied in den Mund und umschloß ihn mit den Lippen; so verharrte sie und wartete auf Antwort, aber Homer Wells ließ die Frage auf sich beruhen. Melony zog ihren nassen Finger aus dem Mund und berührte mit seiner Spitze Homers stumme Lippen. Homer bewegte sich nicht; er wußte, wenn er ihren Finger ansähe, würden seine Augen schielen. »Wenn du möchtest, daß ich es mit dir mache, Sonnenstrahl«, sagte Melony, »brauchst du nichts anderes zu tun, als mir meine Akte zu besorgen – meine Urkunden.« Sie drückte ihren Finger gegen seine Lippen, ein bißchen zu fest.
»Natürlich kannst du, wenn du wegen meiner Akte nachschaust, auch wegen deiner nachschauen – falls es dich interessiert«, fügte Melony hinzu. Sie zog ihren Finger zurück. »Gib mir deinen Finger, Sonnenstrahl«, sagte sie, aber Homer Wells, der die Photographie mit beiden Händen hielt, ließ diese Aufforderung auf sich beruhen. »Komm«, schmeichelte Melony. »Ich tu dir nicht weh.« Er gab ihr seine linke Hand, die Photographie mit der rechten haltend; tatsächlich streckte er ihr die geschlossene Faust entgegen, so daß sie seine Hand aufbrechen mußte, bevor sie seinen linken Zeigefinger in ihren Mund schieben konnte. »Schau das Bild an, Sonnenstrahl«, befahl sie ihm; er tat, wie ihm befohlen. Sie klopfte mit seinem Finger gegen ihre Zähne, während sie hervorstieß: »Besorge mir nur diese Akte, und du weißt, was du dafür bekommst. Behalt das Bild und denk darüber nach«, sagte Melony.
Homer dachte allerdings nur darüber nach, ob die Angst, die er beim Betrachten der Photographie verspürte, während er neben Melony auf der Matratzenwohnstatt zahlloser Mäuse kniete und Melony an seinem Finger lutschte, eine Ewigkeit dauern würde. Aber dann ertönte oben auf dem Dach ein so erschreckendes Bums! – wie ein fallender Körper, gefolgt von einem leichteren Bums (als wäre der Körper hochgeprallt) –, daß Melony ihn in den Finger biß, bevor er ihn instinktiv zurückziehen konnte. Immer noch auf den Knien, taumelten sie einander in die Arme; sie lagen sich in den Armen und hielten den Atem an. Homer Wells spürte sein Herz gegen Melonys Busen pochen. »Was zum Teufel war das?« fragte Melony.
Homer Wells ließ diese Frage auf sich
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