Gottes Werk und Teufels Beitrag
beruhen. Er stellte sich den Geist jenes Holzknechts vor, dessen Photographie er in der Hand hielt, den wirklichen Körper des Sägemühlenarbeiters, der dort auf dem Dach gelandet wäre, einen Mann mit einer rostigen Kerbsäge in jeder Hand und dessen Ohren in alle Ewigkeit nur das Winseln jener Sägeblätter aus der Holzfabrik hören würden. In diesem Bums! eines toten Gewichts auf dem Dach des verlassenen Gebäudes hörte Homer sogar das zähnefletschende Wimmern dieser längst vergangenen Sägen –; aber was war dieses schrille, beinah menschliche Geräusch, das er über den Kreissägen singen hörte? Es klang wie ein Schreien – die papierdünnen Klagerufe der Babys auf dem Hügel, jener ersten Waisen von St. Cloud’s.
Seine heiße Wange spürte den flatternden Puls an Melonys Hals. Ganz leichte, fast zierliche Schritte schienen über das Dach zu schreiten – als habe sich der Körper des Geistes nach seinem Sturz wieder in ein Gespenst zurückverwandelt.
»Jesus!« sagte Melony und stieß Homer Wells so kräftig von sich, daß er gegen die Wand schlug. Das Gepolter, das Homer machte, ließ das Gespenst auf dem Dach eilig umhertrippeln und einen durchdringenden Zweisilbenschrei ausstoßen – den leicht erkennbaren Pfiff eines Rotschulterbussards.
»Kiii-chiii!« machte der Bussard.
Nicht erkennbar war der Schrei offenbar für Melony, die kreischte, aber Homer wußte sofort, was dort auf dem Dach war; er sauste die Treppe hinunter, über die Veranda zu der wackeligen Brüstung. Er kam rechtzeitig, um den Bussard aufsteigen zu sehen; diesmal schien die Schlange leichter zu tragen – sie hing gerade herab, wie ein Leitungsrohr. Es war unmöglich, festzustellen, ob der Bussard die Macht über die Schlange verloren hatte oder ob der Vogel die Schlange absichtlich hatte fallen lassen – in der Erkenntnis, daß dies eine sichere, wenn auch nicht ganz professionelle Art war, sie zu töten. Egal: der lange Sturz auf das Dach hatte die Schlange eindeutig erledigt, und ihr totes Gewicht war jetzt leichter fortzuschleppen als vorhin, als sie gelebt und sich in den Krallen des Bussards gewunden und immer wieder gegen die Brust des Bussards gestoßen hatte. Homer stellte fest, daß die Schlange etwas länger war als der Penis des Ponys, wenn auch nicht ganz so dick.
Melony kam außer Atem neben Homer auf der Veranda an. Als der Bussard außer Sicht war, wiederholte sie ihm ihre Verheißung. »Behalt nur das Bild und denk darüber nach«, sagte sie.
Nicht, daß Homer einer Anweisung bedurft hätte, »darüber nachzudenken«. Er hatte eine Menge nachzudenken.
»Könnte es sein«, fragte sich Dr. Larch in seinem Miszellenjournal, »daß die Adoleszenz der Moment ist, in dem wir zum erstenmal in unserem Leben entdecken, daß wir etwas Schreckliches vor denen zu verbergen haben, die uns lieben?«
Zum erstenmal in seinem Leben verbarg Homer Wells etwas vor Dr. Larch – und vor Schwester Angela und Schwester Edna. Und mit der Photographie des Ponys mit seinem Penis im Mund der Frau verbarg Homer Wells auch seine ersten Zweifel hinsichtlich Sankt Larchs. Mit der Photographie verbarg er auch seine erste Begierde – nicht nur auf die Frau, die an dem erstaunlichen Apparat des Ponys würgte, sondern auch auf die feurige Verheißung, die Melony ihm gegeben hatte. Mit der Photographie (die er unter seine Spitalbettmatratze an den Federrahmen heftete) verbarg Homer auch seine Angst vor dem, was er in den sogenannten Akten finden könnte – in der vermuteten Urkunde über seine Geburt in St. Cloud’s. Und auch die Geschichte seiner Mutter lag in dieser Photographie verborgen, von der Homer sich immer mehr angezogen fühlte.
Drei- bis viermal am Tag holte er sie unter der Matratze hervor und betrachtete sie; und nachts, wenn er nicht schlafen konnte, betrachtete er sie bei Kerzenlicht, das die weitaufgerissenen Augen der Frau weniger glubschäugig erscheinen ließ und in dessen trägem Flackern sich die Wangen der Frau gleichsam zu bewegen schienen. Der flackernde Kerzenschein kräuselte auch die Mähne des Ponys. Eines Nachts, als er das Bild betrachtete, hörte er John Wilbur ins Bett nässen. Öfter noch betrachtete Homer das Bild zur Begleitmusik von Fuzzy Stones dramatischem Keuchen – die Kakophonie von Lunge, Wasserrad und Ventilator paßte ganz gut zu dem Frau-und-Pony-Akt, den Homer Wells sich so gründlich einprägte und vorstellte.
Irgend etwas war anders an Homers Schlaflosigkeit; Dr. Larch bemerkte
Weitere Kostenlose Bücher