Gottes Zorn (German Edition)
Straßenrand anhalten und die Scheibe mit Schnee sauber reiben.
Fatima selbst hatte keinen Augenblick gezögert, auch wenn sie kaum wusste, auf was sie sich einließ. Der Tote, der an einem Haken an der Decke hing, hatte sich in ihre Netzhaut eingebrannt. Irgendjemand hatte
Gottes Zorn
heraufbeschworen. Und jemand hatte eine Warnung ausgesprochen. Der Mord an Mårten Lindgren war nur der erste Schritt.
Die Pulsader zwischen unseren Feinden
. Die Säpo wollte sie natürlich bei den Ermittlungen dabeihaben, weil sie diese Warnung im Internet entdeckt hatte.
Als Fatima sich Malmö näherte, stellte sie fest, dass sie früh dran war. Es waren noch fast zwei Stunden bis zum Treffen mit Bill Lundström im Polizeigebäude. An der Zufahrt zur Umgehungsstraße bog sie in Richtung Norden ab und fuhr am Islamic Center mit der großen Moschee vorbei, die jemand vor ein paar Jahren versucht hatte abzubrennen. Nur einen Steinwurf entfernt lag die Kirche von Västra Skrävlinge mit demselben hellgrünen Dach. Im nächsten Kreisverkehr bog sie in Richtung Innenstadt ab und parkte ihren Wagen beim Einkaufszentrum Rosengård. Ein Spaziergang durch das Viertel meiner Kindheit, dachte sie.
Fatima zog sich die Mütze weit über die Ohren.
Sie erinnerte sich daran, dass es damals ebenfalls kalt war, als sie hier ankamen. Heute lag zwar mehr Schnee, aber ansonsten war es ganz ähnlich. Vor einem der heruntergekommenen gelben Ziegelhochhäuser von Herrgården hielt sie inne und blickte an der Fassade hinauf. Dort oben war es. In diese Wohnung im siebten Stock war die Familie an einem Wintertag vor fünfundzwanzig Jahren eingezogen. Es kam ihr vor, als wäre es eine Ewigkeit her.
Ich gehe hoch und klingele, kam es ihr spontan in den Sinn. Um zu sehen, wer jetzt dort wohnt. Doch dann überlegte sie es sich anders. Während ihrer Zeit als Polizistin in Malmö war Fatima hin und wieder in der Gegend gewesen. Doch das war lange her. Inzwischen kenne ich hier ja niemanden mehr, dachte sie. Nicht einen einzigen Menschen.
Dann erblickte sie in dem Fenster, das zu ihrem alten Kinderzimmer gehört hatte, ein Gesicht. Ein blasses unbewegliches Kindergesicht, das auf die Straße hinunterschaute. Die Entfernung war zu groß, um die Gesichtszüge genauer auszumachen. Dennoch kam ihr das Ganze ziemlich bekannt vor. Ihr wurde schwindelig im Kopf. Genau dort hatte sie so oft selbst gesessen und vor sich hingeträumt, wenn sie aus der Schule gekommen war.
Plötzlich verspürte Fatima den intensiven Wunsch, von hier wegzukommen. Sie lief mit schnellen Schritten weiter. Nun spürte sie jedoch aus allen Richtungen Blicke auf sich gerichtet. Von verschleierten Frauen, die mit schweren Lebensmitteltüten beladen nach Hause wankten. Von Männern, die sich über ein Auto mit offener Motorhaube beugten. Selbst von Kindern, die auf dem Spielplatz einen Schneemann bauten. Von überall her diese nur schwer einzuschätzenden, verstohlenen Blicke.
Sie sehen mir an, dass ich Polizistin bin, dachte sie.
«Fatima!», rief da jemand mit schriller Stimme.
Sie hielt abrupt vor einer alten Frau mit gebeugtem Rücken an, die gerade aus einem Hauseingang gekommen war.
«Ist das nicht meine kleine Fatima?»
Die alte Frau richtete ihr verschrumpeltes Gesicht nach oben.
«Leyla?»
«Ja, du kennst mich also noch …»
Die Frau stellte ihren Müllbeutel auf dem Boden ab und breitete ihre Arme aus. Und bevor Fatima reagieren konnte, hatte die alte Frau, die ihr kaum bis zu den Schultern reichte und nach Essensdüften roch, sie umarmt. Alles war ihr so wohlbekannt! Leyla, die wie eine Großmutter für sie gewesen war. Die immer tröstende Worte fand, wenn Fatima einsam oder traurig war. Sie musste inzwischen doch bestimmt über hundert Jahre alt sein.
«Damals warst du zwölf, und wir waren genau gleich groß, erinnerst du dich noch daran?» Die Frau hatte sofort ins Arabische gewechselt.
«Na klar erinnere ich mich daran. Wie schön, dich zu sehen, Leyla!»
«Weißt du, wie alt ich inzwischen bin?», fragte die Alte, als könne sie Gedanken lesen.
Fatima schüttelte den Kopf.
«Sechsundachtzig. Ich hatte gestern Geburtstag. Aber ich will nicht, dass du mir gratulierst. Denn alt zu werden ist nun wirklich nichts, worüber man sich freuen kann. Isst du übrigens immer noch so gern Baklava mit Pistazien?»
Fatima warf einen raschen Blick auf die Uhr und begegnete dann dem zahnlosen Lächeln der Alten. Einen kurzen Augenblick konnte sie allemal erübrigen.
«Ich
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