Gottes Zorn (German Edition)
worden, doch er konnte nicht in Worte fassen, was. Er musste an Mårtens Habseligkeiten denken, die auf dem Kaminsims gelegen hatten. An die Namen im Taschenkalender. An all das, was diese strenggläubige Frau über ihn erzählt hatte. Es war, als hätte sie eine Tür zu einem unbekannten Zimmer geöffnet. Jedoch lediglich einen kleinen Spaltbreit. Und dort drinnen konnte er nur Schatten erkennen.
Kapitel 10
D ie nahezu ausgetrocknete Frau am Fenster flößte Fatima Unbehagen ein. Sie hockte zusammengekauert in ihrem Sessel und presste ihr verschrumpeltes Gesicht gegen die Scheibe, als wartete sie auf jemanden. Aus ihrem Mund rann ein Speichelfaden am Fensterglas hinunter. Hin und wieder drehte sie sich mit aufgerissenen Augen in Richtung Raum um und stieß verängstigte dumpfe Laute aus.
«Es wimmelt nur so von Würmern», krächzte sie. «Am Tag des Jüngsten Gerichts wird das Fleisch brennen!»
Fatima grüßte die Pflegerin, die gerade damit beschäftigt war, einen alten Mann mit Kaffee und Kuchen zu füttern, und eilte dann ins Zimmer ihres Vaters.
«Bitte Ellen, nicht schon wieder dieses Geschwätz!», hörte sie die Angestellte flehen.
Niemals, dachte Fatima. Nie im Leben will ich so alt werden, so entwürdigt.
Hier wohnt Mahmoud
, las sie auf einem handgeschriebenen Schild an der Tür. Neben den Namen hatte jemand blaue und rote Blumen gemalt.
Das Personal bemüht sich so gut es geht, obwohl sie nur so wenige sind, dachte Fatima. Es liegt nicht am Heim, sondern am Altern an sich. Am Austrocknen des Körpers und der Verdunkelung der Seele. Daran, dass man aufhört, Mensch zu sein.
Sie holte tief Luft und öffnete die Tür. Ihr Vater saß wie immer in seinem Rollstuhl vor dem Fernseher. Als er sie erblickte, leuchtete sein Gesicht auf. Doch sie sah, dass er vergeblich nach Worten rang.
«Hallo, Papa, ich bin’s, Fatima», sagte sie und umarmte ihn.
«Salaam … Fatima, ja Fatima», murmelte er.
Die Hilflosigkeit, die sich in seinen wässrigen Augen widerspiegelte, war nur schwer zu ertragen.
«Hier sitzt du also und guckst Skilanglauf», sagte sie rasch.
«Wer fährt Ski?»
Sie führte ihr übliches Ritual durch. Holte eine Krawatte aus dem Kleiderschrank, band sie ihm um den Hals und richtete seinen Hemdkragen. Dann kämmte sie ihm die Haare, die noch immer dicht und glänzend waren, und zog einen geraden Mittelscheitel.
«So, jetzt siehst du wieder richtig schick aus.»
Sie schaltete die Lautstärke des Fernsehers leiser, bis die nervige Stimme des Kommentators fast ganz verstummt war, und setzte sich aufs Besuchersofa.
«Ich hab dir ein paar Trauben mitgebracht. Du magst Weintrauben doch so gerne, Papa.»
«Ja, Weintrauben schmecken gut …», sagte er und starrte auf die Langläufer, die lautlos ihre Spuren zogen.
«Geht’s dir gut, Papa?», fragte sie und legte ihm die Hand auf den Arm.
«Ja, so einigermaßen, so einigermaßen …»
Immer dieselben sinnlosen Fragen. Fatima schaute auf die Uhr. Eine Stunde konnte sie bleiben, dann musste sie wieder zur Arbeit. Bernhardsson würde aus seinem Thailandurlaub zurück sein. Er verlangte bestimmt einen Bericht über die Einbruchsserie, die noch immer nicht aufgeklärt war.
«Es ist kalt draußen», sagte sie. «Aber hier drinnen hast du es ja gut, hier ist es schön warm.»
Als sie das nächste Mal auf die Uhr sah, waren erst zehn Minuten vergangen, obwohl sie davon überzeugt war, dass es viel mehr gewesen sein müssten. In ihrem Körper begann es zu kribbeln, und wie immer bekam sie ein schlechtes Gewissen. Ich bin ein schlechter Mensch, dachte sie. Eine unzulängliche Tochter, die es nicht schafft, sich um ihren eigenen Vater zu kümmern.
Doch dann ärgerte sie sich über sich selbst. All dieses überholte patriarchale Gefasel, das noch immer in den Köpfen steckte. Nur weil sie eine Frau war, war sie ja wohl noch lange nicht dazu verdammt, anderen den Hintern abzuwischen und Windeln zu wechseln. Sie schaute ihren Vater an. Du warst doch so stolz, dachte sie. Ich weiß noch, wie stolz du warst, als ich Polizistin wurde.
Sie stand auf und nahm ein Fotoalbum aus dem Bücherregal. All die Bücher, die darin standen. Wenn er doch nur lesen könnte wie früher. Damit die Zeit verging, während man neue Welten entdeckte und dann über all das berichten konnte, was man gelernt hatte. Wie er es getan hatte, als sie noch ein Kind war. An seiner Sehschärfe lag es nicht. Doch sein Blick war matt und grau geworden, unfähig, über das
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