Gottes Zorn (German Edition)
Bekannte hinaus noch etwas anderes zu sehen. Für meinen Vater schrumpft die Welt, dachte Fatima. Jeden Tag wird sie etwas kleiner.
Sie setzte sich neben ihn auf einen Stuhl und begann die Fotos durchzublättern. Es waren Schwarzweißfotos aus ihrem Heimatland, die aufgrund ihres Alters vergilbt waren. Und neuere Bilder von Verwandten, die geheiratet und Kinder bekommen hatten.
Als sie auf der letzten Seite angelangt war, spürte sie plötzlich seine trockenen Finger auf ihrer Hand. Vorsichtig blätterte er zur ersten Seite des Albums zurück. Das Brautpaar auf dem Foto wirkte überglücklich. Mahmoud, stolz und ernst mit seinem glänzenden schwarzen Haar und einer weißen Nelke im Knopfloch seines Jacketts. Und Mama wie eine Blume in einem Meer aus Spitze und Seide.
Damals waren sie bedeutend jünger, als ich jetzt bin, dachte Fatima.
In den Augen ihres Vaters erblickte sie die Sehnsucht, obwohl er nichts sagte. Seine Hand zitterte mehr als gewöhnlich.
«Ich weiß, dass du der Meinung bist, dass ich schon längst Kinder haben müsste», sagte sie dann.
Für einen Augenblick kam ihr der Gedanke, ihm jetzt, wo er sowieso nichts mehr begriff, von ihrer Abtreibung zu erzählen. Doch dann ließ sie es bleiben.
«Ich weiß, dass du enttäuscht darüber bist, dass ich Hassan verlassen habe», sagte sie lediglich. «Du hast dir ja so sehr ein Enkelkind gewünscht.»
«Hassan? Wer ist Hassan?»
Sie seufzte und schaute erneut auf die Uhr. «Ach, niemand Besonderes.»
«Wo wohne ich eigentlich?»
«Du wohnst hier in der Sonnenblume, Papa. Das ist wirklich ein schönes Heim. Und du brauchst ja auch inzwischen jemanden, der sich um dich kümmert.»
«Muss ich denn hier wohnen?»
Plötzlich sah er wie ein kleines Kind aus, und Fatima musste sich abwenden.
«Ja, aber hier sind doch alle so nett, oder nicht? Und das Essen schmeckt so lecker.»
«Aber sie schreien nachts.»
«Das ist nur irgendwer, der schlecht geträumt hat.»
«Träume ich auch?»
«Das kannst nur du selbst wissen, Papa.»
Draußen vom Korridor her ertönte ein Summer, gefolgt vom Geräusch laufender Schritte. Die Langläufer im Fernsehen zogen erneut die Aufmerksamkeit des Alten auf sich.
Fatima stand rasch auf. «Ich muss jetzt los, Papa. Aber wir sehen uns bald wieder.»
Als sie ihn umarmte, reagierte er kaum. Doch als sie bereits in der Tür stand, hörte sie seine dünne brüchige Stimme, und plötzlich war es, als hätte sich in seinem Gehirn eine Tür geöffnet, die etwas Tageslicht hineinließ.
«Bist du glücklich, Fatima?»
Sie verspürte einen Stich in der Brust. Als sie sich umdrehte, lag dieser matte Schleier wieder über seinen Augen.
«Ja, klar bin ich glücklich», antwortete sie.
Eine ganze Weile lang saß er da und sah aus, als wäre sein Kopf völlig leer. «Dann ist also alles in Ordnung?»
«Ja, Papa, alles in Ordnung», antwortete Fatima und ging.
***
B jörn Bernhardsson hatte verdammt schlechte Laune. Schon vor der Tür zu seinem Dienstzimmer hörte sie ihn herumbrüllen.
Der Hauptkommissar hatte sich im Urlaub einen Sonnenbrand zugezogen, durch den sich die Haut auf seinem Schädel abpellte. Er trug wie immer einen Anzug und ein blütenweißes Hemd mit Krawatte. Als Fatima nach kurzem Klopfen ins Zimmer trat, verstummte er und starrte sie an, als hätte er ein Beutetier erblickt. Seit ihrem ersten Arbeitstag bei der Kripo Ystad hatte er Fatima an eine Eidechse erinnert.
«Björn ärgert sich darüber, dass die Säpo die Ermittlungen übernommen hat», erklärte Eva Ström leicht entnervt.
Sie saß zusammengesunken auf einem Stuhl am Konferenztisch und lächelte matt. Die Anwesenheit der Kriminalkommissarin beruhigte Fatima. Ström war eine der wenigen Personen, die mit dem cholerischen Chef umgehen konnten, ohne sich von ihm einschüchtern zu lassen.
«Wo sind Sie gewesen?», fauchte Bernhardsson.
«Ich habe meinen Vater im Heim besucht. Ich hab einen Bericht über die Einbruchsserie geschrieben. Er ist fast fertig, sodass Sie ihn …»
«Scheiß auf die Einbrüche», unterbrach er sie. «Wir reden hier von dem Mord an diesem verdammten Malerdilettanten.»
«Da kümmert sich doch die Säpo drum, oder?»
«Ja, und das ist genau das, was mich ärgert!»
«Björn hat sich gerade am Telefon mit jemandem von der Reichspolizeibehörde herumgeschlagen», erklärte Eva Ström.
Bernhardsson warf ihr einen bösen Blick zu.
«Diese geheimnistuerischen Idioten glauben, sie könnten tun und lassen, was sie
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