Gottes Zorn (German Edition)
mit großen fetten Buchstaben hinein:
Die Hälfte meines Lebens habe ich bereits gelebt. Welchen Sinn hat der Rest?
Er stemmte sich mit einem bemerkenswerten Gefühl der Befreiung aus dem Sessel, in der Überzeugung, eine grundlegende Entscheidung getroffen und endlich etwas hinter sich gelassen zu haben. Der Gedanke daran stimmte ihn ungemein fröhlich. Er drehte einige rastlose Runden im Zimmer, bevor er ein altes Album von Coltrane in den CD -Player schob. Die Jazzmelodien tanzten aus den Lautsprechern und erzeugten in seinem Körper ein wohliges Kribbeln. Er drehte die Lautstärke auf und ließ seine Finger über die Klappen seines Luftsaxophons fliegen.
Joel schwebte über den Fußboden.
Als das dritte Stück verklungen war, drehte er die Musik wieder leiser. Die Rehe waren im Unterholz verschwunden. Dunkle Wolken verdeckten die Sonne. Vielleicht würde es noch mehr Schnee geben? Er warf einen Blick aufs Thermometer und sah, dass die Temperatur auf minus acht gestiegen war. In seinen Beinen krabbelten wieder die Ameisen.
Wenn ich doch nur stehen geblieben wäre und ihm zugehört hätte, als wir uns damals im Systembolag begegneten, dachte Joel. Dann wüsste ich jetzt mehr.
Kann denn jemand durch und durch schlecht sein?
Jeder Mensch setzt sich doch aus tausend Bildern zusammen, dachte er. Oder sogar einer Million. Er sah sie beide vor sich. Zuerst Elna mit vagen undeutlichen Konturen, wie sie auf die Leiter stieg. Wo war das Foto von ihr eigentlich abgeblieben? Und dann Mårten mit seinem Strohhut während des Ausflugs zur Schiffssetzung Ales stenar.
Ich habe überhaupt keine Bilder, dachte Joel. Aber ich hab auch nie nach ihnen gesucht. Nie bemerkt, dass welche fehlen.
Die ersten Schneeflocken segelten bereits durch die Luft.
Irgendetwas muss sich doch noch im Haus befinden, mutmaßte er. In diesem verdammten vermüllten Eternithaus, das ich so viele Jahre lang wie die Pest gemieden habe, darin muss es doch zumindest Schnipsel und Fragmente von Fotos geben. Erinnerungsfetzen und Augenblicke, die mir helfen können, alles zu verstehen. Ich muss noch einmal dorthin. Ich muss dorthin und danach suchen. Wenn die Zeit reif ist.
Als das Telefon klingelte, das er mehrere Tage lang abgestellt hatte, war er nahezu froh über die Abwechslung.
«Ja, Joel Lindgren.»
«Hallöchen, hier ist Roger Holgersson von
Ystads Allehanda
.»
Der Name ließ Joel aufhorchen. Vor ihm auf dem Tisch lag Mårtens Taschenkalender. Er brauchte ihn nicht einmal zu öffnen. Inzwischen kannte er alle Einträge auswendig.
«Endlich erreiche ich Sie mal. Wenn ich es recht verstehe, haben Sie sich etwas zurückgezogen.»
«Ja, eine Zeitlang», gab Joel abwartend zu.
«Sie wissen bestimmt, aus welchem Grund ich anrufe. Und ich nehme an, dass ich nicht der Erste bin. Sie sind nämlich Hot News. Haben Sie Lust, der Lokalpresse ein Interview zu geben?»
Joel zögerte. Warum hatte Mårten die Kontaktdaten eines Journalisten in seinem kleinen Buch stehen?
«Wie sind Sie an meine Telefonnummer gekommen?», fragte er.
«Ganz einfach. Ich habe Ihren Nachbarn angerufen. Er war sehr hilfsbereit.»
Verfluchter Gunnar! Joel biss die Zähne zusammen.
«Was haben Sie gesagt? Die Verbindung ist etwas schlecht. Ich habe übrigens gesehen, dass Sie neulich schon
Kvällsposten
Rede und Antwort gestanden haben. Dann können Sie mir doch auch eine Chance geben. Ich verspreche Ihnen sogar, dass Sie die Zitate zu lesen bekommen, bevor sie in Druck gehen.»
Rede und Antwort gestanden! Mein Gott! Ich habe diesem Idioten gegenüber doch kein vernünftiges Wort geäußert, dachte Joel. Er überlegte weitere zehn Sekunden, bis die Neugier überhandnahm.
«Okay», sagte er. «Aber nicht bei mir zu Hause. Ich will, dass wir uns auf neutralem Boden treffen.»
«Mögen Sie eisangeln?»
«Was?»
«Eisangeln. In einem kleinen Loch im Eis fischen. Im Tunbyholmsee kann man leckere Barsche fangen. In Butter gebraten sind sie verdammt lecker.»
«Aha …?»
«Also dann. Sie müssen nur dem Simrishamnsväg bis nach Smedstorp folgen und dort nach Norden in Richtung Sankt Olof abbiegen, dann finden Sie es schon. Ziehen Sie sich warm an, den Rest erledige ich. Sagen wir, in einer Stunde?»
Joel zögerte. Aber dann stellte er fest, dass er gegen ein wenig frische Luft eigentlich nichts einzuwenden hatte. Das war allemal besser als Schweißausbrüche vor dem Laptop. Und außerdem: Holgersson wollte Joel über Mårten ausfragen. Und Joel war mindestens ebenso
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