Gottesgericht
wenn Sie etwas nicht verstehen, können Sie sich an Ihre Führerin hier wenden.« Er winkte Irem an seine Seite. Vor einigen Stunden hatte sie am Telefon mit einem Radiosender gesprochen und dabei auf Türkisch von einem Skript abgelesen, das ihr Hakan diktiert hatte. Irems Äußeres wurde zunehmend ungepflegter. Aber ich sehe wahrscheinlich nicht besser aus, dachte Annaliese. Sie hatte aufgehört, in den Spiegel zu schauen.
»Heute wählen wir zwei von euch nach dem Zufallsprinzip zur Blendung beziehungsweise Verstümmelung aus, einen Mann und eine Frau«, verkündete Hakan. »Die Namen wurden bereits gezogen und stehen hier auf einem Blatt Papier auf dem jeweiligen Stuhl.«
Annaliese wollte nicht zuhören. Sie sah auf die verschieden großen Kreise auf dem Boden. Das Blut war abgewaschen worden, aber in den Rillen um die Scheiben herum war es noch sichtbar. Es hing jetzt auch ein Geruch im Gebäude. Nicht nur nach ungewaschenen Geiseln, sondern ein hässlicherer, und Annaliese vermutete, er stammte von den Leichen der Sicherheitskräfte, die noch im Museum lagen.
»Der Mann wird geblendet, bei der Frau werden wir das Gesicht … verändern. Einige der Damen haben das unter Umständen natürlich bereits getan …« Er sah an der Reihe der Geiseln entlang und versuchte, Blickkontakt mit den Frauen herzustellen. »Das war ein Witz, nebenbei bemerkt …«
Annaliese bemühte sich, seinen Monolog auszublenden, indem sie sich auf irgendetwas konzentrierte, was ihr gerade in den Sinn kam. Nicht zum ersten Mal in diesen letzten Tagen war es die kürzlich stattgefundene Trennung von Markus. Dass sie keine Kinder hatten, machte die Sache insgesamt einfacher. Aber ironischerweise war es auch der Grund für ihre Probleme gewesen. Er wollte ein Kind, sie wollte keine. In ihrem Beruf konnte man leicht die erreichte Stellung auf der Karriereleiter verlieren, wenn man längere Zeit pausierte.
»Aber nichts von alldem wird passieren, wenn Ihre Regierung unsere Wünsche erfüllt«, faselte Hakan weiter.
Doch hier und jetzt hatte Annaliese das Gefühl, ein Kind sei das, was sie eigentlich wollte. Was würde Markus sagen, wenn sie ihn nach dieser Geschichte hier darauf ansprach?
»Unsere Mittel zur Durchführung dieser Behandlungen sind … begrenzt«, fuhr Hakan fort. »Ich fürchte, wir haben nichts Kunstvolleres als das hier.« Er hielt das Teppichmesser in die Höhe, mit dem er dem Israeli die Kehle durchgeschnitten hatte. »Aber zuerst wollen wir einmal sehen, wer unsere Kandidaten sind …« Er sah Irem an. »Bitte geben Sie mir den ersten Namen.«
Die Museumsführerin hob einen Zettel von einem der Stühle auf und gab ihn Hakan. Er nahm ihn und legte eine demonstrative Pause ein, ehe er den Namen verlas wie der Präsentator einer Talentshow, der den Gewinner verkündet. »Und der erste Name ist … Moment … Farouk Salem! Aus Ägypten, glaube ich.« Er sah sich um. »Sind Sie hier, Farouk?«
Der Ägypter, der einige Meter rechts von Annaliese in der Reihe stand, trat vor. Ein hochgewachsener, schmaler Mann, in dessen dichtem, gelocktem Haar und dem gepflegten Bart sich ein wenig Grau zeigte. Er hob den Kopf und stand mit einem Ausdruck grimmiger Entschlossenheit kerzengerade da. Seine Haltung war eine überlegene Antwort auf Hakans plumpen Versuch, ihn lächerlich zu machen.
Ein Bandenmitglied schob Salem zu einem der Stühle, und ein weiterer Terrorist begann, seine Arme und Beine daran festzubinden. Annaliese konnte seinen Hinterkopf sehen. Ihr Herz schlug jetzt schneller.
»Und als Nächste haben wir …« Hakan wartete, bis Irem ihm den zweiten Namen gab. Doch schon bevor er ihn vorlas, sah er sie an. »Annaliese Hoffmann.«
Das kann nicht wirklich passieren, dachte sie.
»Annaliese ist aus Deutschland«, verkündete er. »Eine Österreicherin wäre uns lieber gewesen, aber es gab keine. Annaliese ist jedoch Bayerin, und das ist fast genauso gut.«
Jemand stieß sie in den Rücken.
Ihr Körper fühlte sich plötzlich zu schwer an, und ihre Knie gaben unter ihr nach. Doch als sie auf den Boden sackte, zerrten zwei Bandenmitglieder sie wieder hoch und schleiften sie zu dem Stuhl neben dem Ägypter. Als sie Arme und Beine festbanden, war ihr einziger rationaler Gedanke, dass sie nicht zufällig ausgesucht worden waren.
Als Annaliese gefesselt war, näherte sich Hakan den beiden von hinten.
»Wer kommt zuerst dran?«, sagte er in einem neckischen Tonfall. Sie hörte ein Klicken.
»Mann oder Frau?« Ein
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