Gottesgericht
abwarten müssen. Aber was für ein Ende – wenn es das Ende ist.«
»Ich schaue gerade Al Dschasira. Sie spekulieren, die Terroristen hätten das Museum auf demselben Weg verlassen, auf dem sie hineingekommen sind. Und der nie recht erklärt wurde.«
»Aber das wird die Polizei inzwischen doch sicherlich herausgefunden haben.«
»Anzunehmen. Was bedeutet, sie müssen den Abgang der Brigade ermöglicht haben. Genau das will der Sender andeuten.«
»Wir werden Demir Orhun dazu bringen müssen, gleich morgen früh mit uns zu reden. Ich hatte Sorge, wir könnten für morgen nicht genügend Material haben, wenn die Beitrittszeremonie am Donnerstag nicht über die Bühne geht. Aber das ist jetzt kein Problem mehr. Ich schicke Ali eine SMS , dass sich Paddy für uns bereithalten soll. Wie wäre es mit jemandem, der etwas dazu sagen kann, wie die ganze Geiselkrise gehandhabt wurde?«
»Da kenne ich genau den richtigen Mann. Er hat ein Buch über die Belagerung von Beslan 2004 geschrieben.«
»Gut. Ich versuche Orhun selbst zu erwischen. Er ist nicht …«
»Entschuldige, Jane, noch eine Eilmeldung auf Al Dschasira. Israel hat an die Türkei appelliert, die Terroristen zu ergreifen und nach Israel zu schicken, damit ihnen der Prozess gemacht werden kann. Andernfalls würden sie die Türkei für den Tod von Chaim Elon verantwortlich machen. Und um ihren Standpunkt zu unterstreichen, haben sie ihre Kriegsschiffe im Marinestützpunkt Haifa in Alarmbereitschaft versetzt.«
»Hm. Weißt du was, Joe? Ich glaube, das Ganze hat das Zeug zu einer noch größeren Krise.«
19
Orhun war verwirrt. Als ehemaliger Reporter der Tageszeitung Hürriyet wusste er, wann er nur die halbe Geschichte erfuhr. Er saß an seinem Schreibtisch im zweiten Stock der Botschaft in Ballsbridge und bemühte sich, alles zu verarbeiten, was in der hektischen Zeitspanne vorgefallen war, seit sich die Situation in Istanbul in eine Richtung entwickelt hatte, die niemand voraussehen konnte.
Die offizielle Linie, von der er und der Botschafter in einer Konferenzschaltung über eine sichere Leitung aus dem Außenministerium in Ankara soeben unterrichtet worden waren, sah folgendermaßen aus: Eine Kommandoeinheit sei im Begriff gewesen, das Gebäude zu stürmen, ihr Plan sah vor, die Brigade an der Zündung der Sprengkörper zu hindern und so viele Geiseln wie möglich zu retten. Es war ein hochriskantes Unternehmen, doch der Premierminister hatte grünes Licht gegeben.
In diesem entscheidenden Moment hatte sich die Brigade mit einem überraschenden Vorschlag gemeldet. Im Gegenzug für freies Geleit außer Landes würden sie die Besetzung aufgeben und die Geiseln schrittweise freilassen.
Vor die Wahl zwischen einem gewaltlosen Ende der Krise und einem Feuergefecht mit möglicherweise katastrophalem Ausgang gestellt, hatte die Regierung widerstrebend zugestimmt.
Doch die Abreise der Terroristen musste diskret gehandhabt werden, und so fand man einen Weg, sie heimlich fortzuschaffen. Dafür war allerdings ein gewisses Maß an Fehlinformation nötig gewesen, sodass die Belisarius Brigade zu dem Zeitpunkt, da die Geiseln die Hagia Sophia verlassen durften, bereits in einem Hubschrauber der türkischen Luftwaffe auf dem Weg nach Griechenland war. Der Hubschrauber war inzwischen auf dem Rückflug, mit der letzten verbliebenen Geisel an Bord – Irem Selçuk, der Frau, die von der Bande als Sprachrohr benutzt worden war.
Die naheliegende Frage war natürlich: Was hatte die Belisarius Brigade dazu veranlasst, die Besetzung der Hagia Sophia plötzlich aufzugeben?
Die offizielle Antwort lautete, die Regierung sei bei ihrem ursprünglichen Angebot geblieben, Christen und Muslime sofort nach dem Beitritt zur EU zu Gesprächen über die künftige Nutzung des Bauwerks für Gottesdienste einzuladen. Und dies schien die Terroristen zufriedengestellt zu haben.
Orhun glaubte nicht, dass es ihnen irgendwer abkaufte, aber man beschied ihm, die Wahrheit enthalte zu viel Zündstoff und könnte zu einer Verschiebung der Beitrittsfeier auf unbestimmte Zeit führen. Wenn sie sich jedoch geheim halten ließ, würde die EU bis zum nächsten Tag wahrscheinlich weich werden und die Zeremonie stattfinden lassen. Immerhin sei die Hagia Sophia gerettet worden. Mit Ausnahme des Israeli habe man alle Geiseln befreit. Durch ihren Umgang mit den Terroristen habe die Türkei Leben gerettet und gesellschaftliche Unruhen im Land selbst verhindert. Selbst die USA würden wahrscheinlich
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