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Gottesgericht

Gottesgericht

Titel: Gottesgericht Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Patrick Dunne
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im Augenblick nicht denken. Dann ging die Tür auf, und er stieg über die Flaschen in den Vorraum der Kirche.
    Da er nur das Licht hatte, das von draußen einfiel, suchte er nach einem Schalter an der Wand. Aber dann wurde ihm klar, dass man seine Anwesenheit bemerken würde, wenn er die Lichter in der Kirche anmachte. Er hätte die Taschenlampe mitnehmen sollen, die im Wagen lag. Er beschloss, sie zu holen, und wollte schon durch die Tür gehen, als er sah, dass es keine Laterne war, die den Vorraum erhellte, sondern der Mond, der von einem wolkenlosen Himmel strahlte.
    Er schloss die Tür und wartete kurz, bis sich seine Augen an das fahle Licht gewöhnt hatten. Schließlich konnte er die Tür erkennen, die in die Kirche führte. Er stieß sie auf und stellte fest, dass das Mittelschiff wie erhofft in silbriges Licht getaucht lag.
    Während er den Gang entlangschritt, musste er daran denken, was ihm Pfarrer Kamarda über die Tradition der lebenden Toten in Collalba und anderen Dörfern Süditaliens erzählt hatte. Man glaubte, dass Leichen, die zur erneuten Beisetzung exhumiert wurden, aber immer noch verwesendes Gewebe an den Knochen hatten, den Übergang vom Leben zum Leben nach dem Tod noch nicht ganz vollzogen hatten. Bis der Zerfall über den Punkt hinaus war, an dem er die Lebenden verseuchen konnte, anders ausgedrückt also, bis der Leichnam zum Skelett geworden war, befand sich die Person zwischen zwei Welten – nicht mehr in diesem Leben, aber auch noch nicht auf der anderen Seite angekommen. Eine an die Erde gebundene, rastlose Seele, ein lebender Toter. Und um sicherzustellen, dass immer einer oder mehrere von ihnen die Ikone in der Krypta bewachten, hatte die Familie Bua alles noch ein Stück weiter getrieben.
    Giuseppe erreichte die äußere Tür – die Särge waren inzwischen entfernt worden, wie er feststellte – und tastete nach dem Schlüssel auf dem Türrahmen. Er war da. Sobald er durch die Tür gegangen war, schaltete er das Licht ein. Es gab keine Fenster mehr hier, deshalb würde es niemand bemerken. Nicht mehr so optimistisch wie zuvor fuhr er über den schmalen Sims des Kapitells. Doch zu seiner Überraschung war Enzo Buas Schlüssel ebenfalls da. Während er das Vorhängeschloss öffnete, atmete er tief ein, um seine Lungen zu füllen wie ein Taucher.
    Als er den nächsten Lichtschalter gefunden hatte, holte er erneut tief Luft und stieg dann in gebückter Haltung und so schnell er konnte die Treppe hinunter. Er erinnerte sich daran, wie Kamarda das Licht in der Krypta ausgeknipst hatte, und tastete nach dem Schalter, in dem Bewusstsein, dass er seinen kostbaren Luftvorrat mit jeder Sekunde weiter aufbrauchte. Als er ihn endlich gefunden hatte, ächzten seine Lungen nach Atem.
    Die Szene vor ihm war nicht weniger makaber als beim ersten Mal. Links und rechts eines etwa drei Meter langen und zwei Meter breiten Raums befanden sich jeweils drei betonierte Nischen in der Form eines Sessels mit hohen Seitenteilen, wie die Boxen, in denen sich Mönche versammelten, um das Offizium zu lesen. Und jede Nische wurde von einer Figur in einer roten Mönchskutte besetzt – dasselbe Rot wie die Röcke der Arbëresh-Frauen. Über den sechs Plätzen lief ein Sims die gesamte Länge der Krypta entlang, auf dem die Schädel derer lagen, die zuvor die Nischen besetzt hatten.
    Die vordersten Insassen waren in ihren Gewändern auf praktisch nichts geschrumpft, ihre Skelette waren kurz vor dem Zerfall. Einer war nach hinten gekippt, und die Kapuze seiner Kutte war zurückgerutscht und ließ einen Schädel sehen, der nach oben starrte, den Mund weit offen. Ein anderer lag über eine Eisenstange gebeugt, die vor den Nischen eingesetzt war, damit die Leichen nicht herausfielen. Sein Kopf war vollkommen geschrumpft, aber die Arme ragten noch aus den Ärmeln, die Knochen der Hand sahen aus wie Zweige an einem Ast.
    Die übrigen Leichen befanden sich in verschiedenen Stadien der Verwesung, aber Giuseppe beachtete sie nicht. Er blickte zu etwas an der Rückwand der bunkerartigen Krypta. Etwas, das ihn daran erinnerte, wie naiv sein Gedanke gewesen war, das hier ließe sich zu einer Touristenattraktion für Collalba gestalten.
    Kamarda hatte beschrieben, wie nach dem Begräbnisgottesdienst des zum nächsten Wächter bestimmten Familienmitglieds der Buas die Leiche aus dem Sarg genommen, in ein spezielles Gewand gekleidet und in die Nische gesetzt wurde, die ein Loch in der Mitte des Sitzes hatte, damit die

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