Gottesgericht
Körperflüssigkeiten abfließen konnten. Eine Öffnung unter dem Sitz leitete die Flüssigkeiten über einen Kanal in ein Loch in der Mitte des Bodens. Mit der Zeit wurde der Kadaver skelettiert, und wenn die Bänder das Skelett nicht mehr zusammenhalten konnten, wurden die Knochen entfernt. Der Schädel kam dann zu jenen, die bereits auf dem Sims versammelt waren, während die übrigen Knochen mit denen der Vorfahren in ein gemeinsames Beinhaus gelegt wurden. Dieser wie ein Trog geformte Behälter stand auf einer Seite des siebten Insassen, der immer der zuletzt verstorbene war und mit dem Gesicht zu allen saß, die es wagten einzutreten. Und ihn sah Giuseppe nun an – Enzo Bua, der in seinem roten Gewand auf seinem Steinsessel saß und dessen Gesicht im Deckenlicht sichtbar war. Nur war es nicht mehr erkennbar. Es war zu einer verfärbten, aufgedunsenen Maske geworden, aus der Zunge und Augäpfel grotesk hervorquollen.
Giuseppe hatte sein Verlangen nach Luft bereits durch mehrere kurze Atemzüge zu befriedigen versucht, aber sein Bedürfnis war jetzt zu groß, und er atmete tief ein. Die Dämpfe schienen seine Lunge wie Rauch zu füllen. Er holte noch einmal Luft, und diesmal traf ihn der Gestank richtig. Es war schlimmer als beim ersten Mal. Und er wusste, es lag daran, dass Enzo Buas Körperinhalt in den Hohlraum unter dem Sitz tropfte.
Doch trotz dieses Angriffs auf seine Sinne stellte Giuseppe zufrieden fest, dass dort an der Wand über dem lebend-toten Wächter die Ikone hing. Auf ein nicht gerahmtes Stück Holz etwa von der Größe eines Schulblocks gemalt – klein genug, um sie in einer Tasche zu transportieren –, bildete sie das Jüngste Gericht ab. Jesus in aller Herrlichkeit auf seinem Thron. Der Kontrast zu den verwesenden Insassen der Krypta hätte nicht größer sein können. Aber vielleicht war das alles Absicht.
Sein Verdacht hinsichtlich Mitri Kamarda war unbegründet gewesen. Natürlich war seine Abwesenheit immer noch ein Rätsel. Aber darüber würde er später nachdenken. Er wandte sich zum Gehen. Die Krypta war kein Ort, an dem man gern verweilte. Der Gedanke ließ ihn innehalten. Vielleicht hatte Kamarda genau darauf gebaut. Dass er den Schlüssel zurückgelassen hatte, konnte ebenfalls zu seinem Plan gehört haben.
Während er den Gestank weiter tapfer ertrug, drehte sich Giuseppe um und spähte zu der Ikone. Er neigte den Kopf von einer Seite zur anderen und versuchte, das Licht einzufangen. Doch wo hier und dort Blattgold aufleuchten sollte, wie er es beim ersten Mal gesehen hatte, blieb nun alles matt.
Sein Herz schlug heftiger. Er hatte beinahe das Gefühl, es zu hören. Doch was war das? Es klang wie ein Flüstern. Hatte es gerade angefangen? Oder hatte er es bisher nicht vernommen, weil er zu geräuschvoll damit beschäftigt gewesen war, seinen Atem zu kontrollieren?
Er lauschte. Das Flüstern schien vom anderen Ende der Krypta zu kommen. Angst übermannte ihn. Seine Fantasie ging mit ihm durch, weil er schon halb glaubte, dass es von Enzo Bua kam. Dann nahm er eine Bewegung auf dem Boden wahr, und er blickte nach unten. Ein dicker Klumpen verwesenden Gewebes sickerte aus der Öffnung unter dem Sitz des Toten. Und das Flüstergeräusch stammte von einem wimmelnden Berg von Maden, die sich daran gütlich taten.
Giuseppe zog sich instinktiv zurück, lehnte sich an die Wand außerhalb des Eingangs und kämpfte gegen die Übelkeit an, die ihn zu überwältigen drohte. Hätte er es nicht schon vorher gewusst, dann wusste er es spätestens jetzt – der Schutz durch die Wächter der Familie Bua war nicht nur symbolisch. Er stellte eine echte Abschreckung dar.
Aber wenn er die Sache zu Ende bringen wollte, blieb ihm keine Wahl. Er musste hineingehen.
Unter sorgsamer Umgehung des Abflusskanals machte er sich auf den Weg zum Beinhaus und gab sich Mühe, weder Enzo Bua anzusehen noch seine Tochter Shpresa, die rechts von ihrem Vater saß. Er stieg auf den Rand des Knochenbehälters und beugte sich vor, um das Bild zu untersuchen. Auf einen Verdacht hin befühlte er die Oberfläche. Es war nur Papier. Es konnte keinen Zweifel geben: Die Ikone war fotokopiert, und die Kopie dann auf ein Brett geklebt worden. Er hob sie vom Haken. Ein zurechtgeschnittenes Stück Sperrholz.
Pfarrer Kamarda hatte die Ikone tatsächlich entfernt. Und sein Versuch, die Tat zu verschleiern, sprach nicht dafür, dass seine Motive ehrenwerter Natur waren.
Giuseppe wollte die Fälschung schon als Beweis
Weitere Kostenlose Bücher