Gottesopfer (epub)
St. Georg war um diese Zeit brechend voll, und Lina bewegte sich wie eine Schlange durch das schlauchartige Restaurant, um die Gäste zu bedienen. Als sie vor zehn Jahren mit ihrer Mutter aus Spanien nach Deutschland gekommen war, hatte das Viertel gerade eine Verwandlung durchgemacht. Die kleinen Handwerksbetriebe waren nach und nach StraÃencafés, Boutiquen, Antiquariaten und Restaurants gewichen. Die Nutten und Drogendealer waren weiter Richtung Hauptbahnhof gewandert, und Künstler, Intellektuelle und Homosexuelle zogen in die restaurierten Altbauten mit ihren klassizistischen Stilelementen, dem Stuck und den Ornamenten.
Linas Mutter war eine ausgezeichnete Köchin, und so eröffneten sie ein kleines Restaurant, das bald ein Geheimtipp war â auch wegen der grandiosen Flamenco-Einlagen am Samstagabend.
» Lina, preparate «, Consuela sah auf die Uhr, » ya son a las diez .«
» SÃ, Mama  â¦Â ich weiÃ, dass es schon zehn Uhr ist, aber es kommt auch nicht auf fünf Minuten mehr oder weniger an.« Lina ging aus der Küche in einen der hinteren Lagerräume, um sich umzuziehen. Sie hatte inzwischen mehrere Outfits für ihre Auftritte, aber ihr Lieblingskostüm war ein roter langer Volantrock mit einer weiÃen Wickelbluse. Sie drehte sich vor dem Spiegel einmal nach links und einmal nach rechts, hob die Arme über den Kopf, lieà die Hände kreisen und kickte mit dem Fuà den Rock nach hinten. Dann klatschte sie zweimal in die Hände, steckte sich eine künstliche rote Lilie seitlich in die offenen schwarzen Haare und ging wieder zu ihrer Mutter.
»Ach, wenn dein Vater dich so sehen könnte, er wäre stolz auf seine kleine muñeca .«
»SÃ, Mama.«
»Hast du heute gebetet, Lina?«
» SÃ, Mama , jeden Tag bete ich.«
»Muy bien, muñeca.«
Consuela ging durch die Schwingtür aus der Küche hinter die Bar und legte eine CD in den CD-Spieler. Sie drehte die Lautstärke etwas höher, und dann ertönten auch schon die ersten spanischen Gitarrenklänge aus den Lautsprechern, und eine rauchige Stimme begann zu singen: » Tarata tran tran tran, tiriti tran tran tran tran, me sentà tan confundido, compañerita de mi vida â¦Â que yo puedo subir las paredes para llegar a tu puerta  â¦Â â Ich bin so durcheinander, Liebe meines Lebens, dass ich die Wände hochgehen könnte, nur um an deine Tür zu kommen â¦Â«
Dann trat Lina auf. Die Gäste, die mit dem Rücken zu ihr saÃen, drehten sich um und hörten auf zu essen. Lina wirbelte ihren feuerroten Rock herum und überlieà sich ganz der Musik und dem Tanz. Sie nahm nur noch die Umrisse der Leute wahr, denn sie tanzte nicht nur mit den FüÃen, sondern mit dem Herzen. Mit dem Herzen ihres Vaters.
Die kleine Lina war und blieb die einzige Tochter von Consuela und Diego Ospina Lopez und war der gröÃte Stolz ihres Vaters. Doch war das Glück der Familie von Anfang an getrübt: Lina hatte einen schweren Herzfehler und musste schon wenige Tage nach ihrer Geburt operiert werden. Danach schien alles gut zu werden, doch als sie acht war, war erneut eine Operation nötig. Die Ãrzte räumten ihr keine groÃen Ãberlebenschancen ein, doch Lina war willensstark, und es ging ihr von Tag zu Tag besser. Mit vierzehn aber wurde Linas Herz immer schwächer, und die Ãrzte lehnten eine weitere Operation ab. Nur ein Spenderherz konnte Linas Leben retten. Aber man fand kein passendes.
Linas Vater war verzweifelt. Er verbrachte eine Nacht betend in der Kathedrale von Santiago de Compostela, und am nächsten Tag stand sein Entschluss fest. Er flog mit Frau und Tochter in seine Heimatstadt MedellÃn nach Kolumbien und fuhr dort mitder kranken Lina auf direktem Wege in die Klinik San Vicente, in der ein alter Freund von ihm als Chirurg arbeitete.
An ihrem fünfzehnten Geburtstag wachte Lina auf der Intensivstation auf. Ihre Mutter saà weinend neben ihrem Bett und reichte ihr schluchzend die Geburtstagskarte, auf der stand: »Alles Gute zum 15. Geburtstag, mein Kleines. Mit jedem Schlag Deines Herzens bin ich bei Dir. Dein Papa«.
Die Musik hörte auf, und Lina blieb hoch erhobenen Hauptes stehen. Die Gäste klatschten und riefen nach einer Zugabe, und Lina tanzte weiter. Sie ging von Tisch zu Tisch und stand plötzlich vor einem bekannten Gesicht. Sie tanzte eine
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