Gottesopfer (epub)
Lippen und ein ebenmäÃiger rosiger Teint â damit hatte sie seinem Vater den Kopf verdreht und später vielen anderen. Als er sie das letzte Mal gesehen hatte, war sie trotz ihres Alters immer noch eine verdammt attraktive Frau. Doch der Schein trog, denn seine Mutter war eine der egoistischsten und hintertriebensten Personen, die Sam kannte. Eines Tages war sie Hals über Kopf mit ihren Kindern nach Deutschland gezogen â angeblich, weil sie die tägliche Angst nicht mehr ertragen konnte, ob ihr Mann nach Hause kam oder ob seine Kollegen vor der Tür standen und ihr erklärten, dass er bei einem Einsatz erschossen worden war. Doch es dauerte keine Woche, bis sie den beiden Kindern ihrenneuen Liebhaber vorstellte. Allerdings waren Roswithas wechselhafte Launen schwer zu ertragen, und dafür war nicht nur bei ihrem ersten Lover die Liebe nicht groà genug. So gaben sich die Männer die Klinke in die Hand, bis sie eines Tages einen wohlhabenden Filmproduzenten kennenlernte, bei dem sie sich zusammenriss und der sie ertrug. Er wollte sie ganz für sich allein. Lily war damals erst sieben Jahre alt, deshalb zog sie mit ihrer Mutter in seine groÃzügige Villa, aber für Sam war auf einmal kein Platz mehr in Roswithas Leben. Mit siebzehn wohnte er bereits allein und war fortan nur noch ein gelegentlicher Gast bei ihr und ihrem Geliebten.
Bald schon heiratete Roswitha ihren Filmproduzenten. Danach gondelten sie in der Weltgeschichte herum, besuchten Filmsets und Drehorte, während Lily zu Freunden kam oder mit einem Kindermädchen zu Hause blieb. Mit zwölf war Lily rebellisch und frühreif, lieà sich nichts mehr sagen und hing die meiste Zeit mit ihren neuen Freunden herum, wie sie gelangweilte Kinder aus reichen Häusern. Als sie dreizehn war, rauchte sie bereits eine ganze Schachtel Zigaretten täglich und hatte sämtliche Drogen ausprobiert, von Hasch bis LSD, das ganze Programm. Mit fünfzehn schmiss sie die Schule und zog bei einem zwanzig Jahre älteren Fotografen ein, der eine Vorliebe für junge Mädchen hatte. Sams Mutter war das nur recht, sie lieà Lilys Zimmer in einen begehbaren Kleiderschrank umbauen, in dem endlich genug Platz war für ihre zahlreichen Schuhe, Handtaschen und Kleider.
Von alldem bekam Sam nicht mehr viel mit. Er wusste seit der Schulzeit, dass er Polizist werden wollte. Eine Art Protest, um seiner Mutter eins auszuwischen und um sie an seinen Vater zu erinnern, den sie verlassen hatte. Er begann in Würzburg zu studieren und verlor in dieser Zeit Lily aus den Augen, der Kontakt zu seiner Mutter riss vollkommen ab. Das letzte Mal hatte er vor zehn Jahren mit ihr telefoniert, als sie ihm sagte, dass sein Vater bei einem Einsatz erschossen worden war. Inzwischen hatte sie sich von ihrem Filmproduzenten getrennt und interessierte sichplötzlich wieder für ihre vergessenen Kinder. Doch für Sam kam das zu spät, und so flog er mit Lily allein nach New York zur Beerdigung ihres Vaters. Schon damals wirkte Lily verloren, sie war dünn und blass. Sie schob es auf eine längere Erkältung, und Sam glaubte ihr, wollte ihr glauben, um sich nicht mit einer unbequemen Wahrheit auseinandersetzen zu müssen. Er war gerade Anfang dreiÃig, hatte die ersten spektakulären Mordfälle aufgedeckt und sich in Polizeikreisen einen Namen gemacht. Nach der Beerdigung hatten Sam und Lily nur sporadisch Kontakt, bis Lily eines Tages vor drei Jahren vor seiner Tür stand und ihn bat, bei ihm einziehen zu dürfen. Sam nahm sie auf, finanzierte ihr eine Grafikschule, half ihr, ihr Leben auf die Reihe zu bekommen. Doch war es, wie er heute wusste, damals schon zu spät gewesen, der jahrelange Drogenkonsum hatte seinen Tribut gefordert und die Gesundheit seiner kleinen Schwester ruiniert.
Lily riss ihn aus seinen Gedanken, indem sie, wie so oft, völlig unvermittelt eine ihrer tiefsinnigen Fragen stellte. »Sammy, hast du mal darüber nachgedacht, dass doch alles im Leben einen Sinn hat?«
»Wie meinst du das?«
»Alles, was man macht oder gemacht hat, ergibt irgendwann einen Sinn, auch wenn man es vielleicht erst nach Jahren erkennen kann. Es ist wie eine lange, nicht enden wollende Mathematikaufgabe: Am Ende gibt es immer ein logisches Ergebnis.«
«Wie was zum Beispiel? Spielst du auf den Tod an? Ist es der, der am Ende steht?« Lily redete gerne über den Tod. Ãber Umwege kam
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