Gottesstreiter
dass sie, wenn sie Birkhart von Grellenort in die Hände fielen, noch bedeutend größere Unannehmlichkeiten
zu spüren bekämen.
Sie verließen Ohlau durch eine Pforte unweit des Brieger Tores, im südwestlichen Teil der Stadt. Sie taten auch dies nicht
ganz freiwillig. Dorothea hatte Bekannte unter den Wächtern, die hier ihren Dienst versahen. Diesmal genügten aber weder Liebreiz
noch ein viel versprechendes Lächeln – hier waren Argumente in klingender Münze angebracht. Reynevans Schulden bei dem Freudenmädchen
wuchsen rasch.
»Du könntest Schwierigkeiten bekommen«, sagte er, als sie sich verabschiedeten. »Sie haben dein Geld genommen, aber wenn es
hart auf hart kommt, liefern sie dich aus, ohne auch nur mit der Wimper zu zucken. Willst du nicht mit uns fliehen?«
»Ich komme schon zurecht.«
»Bestimmt?«
»Das sind doch nur Männer. Mit denen kann ich umgehen. Reitet mit Gott. Bleib gesund, Elencia!«
»Lebt wohl, Frau Dorothea. Danke für alles.«
|609| Sie ritten südlich um die Stadt herum. Auf einem Pfad unter Korbweiden erreichten sie den Fluss. Sie fanden eine Furt und
gelangten ans linke Ufer. Kurze Zeit später hatten die Pferde festeren Boden unter den Hufen. Sie waren auf der Straße.
»Unsere Pläne haben sich nicht geändert?«, fragte Elencia, die sich ganz passabel im Sattel hielt, sicherheitshalber. »Wir
reiten dorthin, wo wir hinsollen?«
»Ja. Dorthin.«
»Werdet ihr durchhalten?«
»Wir halten durch.«
»Dann weiter. Wir verlassen die Breslauer Straße und wenden uns nach Westen. Schneller! Wir müssen, solange es noch hell ist,
so weit kommen, wie wir nur können.«
»Elencia.«
»Ich höre.«
»Ich danke dir.«
»Danke mir nicht.«
Die Mainacht duftete nach Traubenkirschen.
Als er sagte, sie würden durchhalten, hatte Reynevan Elencia Stietencron angelogen. In Wirklichkeit hielten ihn und Samson
nur noch die Riemen im Sattel. Und die Angst vor Grellenort.
Der Weg durch die Nacht war wahrhaftig ein Weg nach Golgatha. Es war die reinste Wohltat, dass sich Reynevan an nicht viel
erinnern konnte, das Fieber schüttelte ihn wieder und verwehrte es ihm, die Umgebung wahrzunehmen. Um Samson stand es nicht
viel besser, der Riese stöhnte, krümmte sich, kauerte sich im Sattel zusammen und schwankte mit dem Kopf wie ein Betrunkener
über der Pferdemähne hin und her. Elencia ritt zwischen den beiden und hielt sie fest, so gut es ging.
»Elencia?«
»Ja?«
|610| »Vor drei Jahren, am Steubernhau ... Wie hast du dich retten können?«
»Ich will nicht darüber sprechen.«
»Dorothea hat erwähnt, dass du später, im Dezember, auch das Massaker von Wartha überlebt hast ...«
»Darüber will ich auch nicht sprechen.«
»Entschuldige.«
»Es gibt nichts zu entschuldigen. Halt dich im Sattel, bitte. Sitz aufrechter ... Beug dich nicht so nach vorn ... Gott, wann ist diese Nacht endlich zu Ende ...«
»Elencia ...«
»Dein Freund ist entsetzlich schwer.«
»Ich weiß nicht ... wie ich dir danken kann ...«
»Ich weiß, dass du das nicht weißt.«
»Was ist los mit dir?«
»Die Hände schlafen mir ein ... Sitz gerade, bitte. Und reite.«
Sie ritten weiter.
Das Morgengrauen zog herauf.
»Reinmar?«
»Samson? Ich dachte, du ...«
»Ich bin bei Bewusstsein. Allgemein gesagt. Wo sind wir? Ist es noch weit?«
»Ich weiß es nicht.«
»Es ist nah«, meldete sich Elencia. »Das Kloster ist ganz nah. Ich höre schon die Glocken ... Morgenandacht ... Wir haben es geschafft ...«
Die Stimme und die Worte des Mädchens verliehen ihnen Kraft, ihre Euphorie war stärker als ihre Müdigkeit und ihr Fieber.
Die Entfernung, die sie noch von ihrem Ziel trennte, überwanden sie rasch, sie wussten selbst nicht, wie. Die Welt, die aus
dem klebrigen, zottigen Grau der Morgendämmerung hervorkam, schien völlig irreal, illusorisch und unbegreiflich zu sein, alles,
was ringsherum geschah, geschah wie im |611| Traum. Wie im Traum segelten sie an Ziegenmelkern vorbei, wie im Traum waren da das Kloster und die Klosterpforte, die in
ihren Angeln quietschte. Im Nebel tauchte wie im Traum die Schwester Pförtnerin in ihrem grauen Habit aus dicker friesischer
Wolle auf. Ihr Aufschrei war wie aus einer anderen Welt ... Und die Glocke. Die Morgenandacht, wirbelte es durch Reynevans Kopf,
laudes matutinae ...
Aber wo bleibt der Gesang? Warum singen die Nonnen nicht? Ach, das ist ja Weißkirchen, der Orden
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