Gottesstreiter
Farnblüte zu suchen. Im Birkenwäldchen schon erklärte Reynevan
Jutta, dass die Farnblüte eine Legende sei, und sie zu suchen, obwohl dies romantisch und aufregend sei, mache eigentlich
überhaupt keinen Sinn, und es sei schade um die |617| Zeit, es sei denn, man wolle die jahrhundertealte Tradition unbedingt wahren. Jutta bekannte ihm denn auch sehr schnell, dass
sie die Tradition zwar achte, allerdings eher gewillt sei, die kurze Juninacht besser, vernünftiger und angenehmer zu gestalten.
Reynevan, der diese Ansicht teilte, breitete seinen Mantel auf dem Boden aus und half ihr, sich zu entkleiden.
»Adsum favens«
, flüsterte das Mädchen, langsam und nach und nach ihren Hüllen entsteigend wie Aphrodite dem Schaum des Meeres. »
Adsum favens et propitia
, wohlwollend und zugeneigt. Lass deine Tränen und deinen Kummer fahren, hinweg mit der Verzweiflung: Denn schon erwächst
dir aus meiner Gnade der Tag der Erlösung.«
Sie flüsterte, und vor Reynevans Augen erschien ihre Schönheit. Die berauschende Schönheit ihrer Nacktheit, der Ruhm ihrer
delikaten Weiblichkeit, der Gral, die Reliquie, die Heiligkeit. Vor seinen Augen erschien die
donna angelicata
, eines Pinsels solcher Meister würdig, die er kannte, wie Domenico Veneziano, Simone Martini, Robert Campin, Masaccio, Masolino,
die Brüder Limburg, Sassetta, Jan van Eyck. Und auch jener, die er noch nicht kennen konnte, die erst kommen würden. Deren
Namen – Fra Angelico, Piero della Francesca, Quarton, Rogier van der Weyden, Jean Fouquet, Hugo van der Goes – die entzückte Menschheit
erst noch kennen lernen sollte.
»Sit satis laborum«,
flüsterte sie und schlang ihre Arme um seinen Hals. »Genug der Qualen.«
Als sie sah, dass seine wunde Schulter Reynevan immer noch hinderte, ergriff sie die Initiative. Indem sie ihn auf den Rücken
rollte, verband sie sich mit ihm in der Stellung, die der Dichter Martial als Hektor und Andromache bezeichnet hat.
Sie liebten sich wie Hektor und Andromache. Sie liebten sich in der Johannisnacht. Irgendwo hoch droben erklangen Chöre, es
war nicht ausgeschlossen, dass es Engelschöre waren. Und um sie herum hüpften die Waldwichtel und sangen:
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Auf Johanni blüht der Holler,
Da wird die Liebe noch viel toller!
In den kommenden Nächten und oft auch am Tage machten sie sich nicht mehr die Mühe, in den Wald zu laufen. Sie liebten sich
gleich hinter der Klostermauer, in der hellen Sonne, verborgen von Schlehenbüschen und Holunder. Sie liebten sich, und um
sie herum hüpften – selbst am Tage – die Waldwichtel.
Petersilie, Suppenkraut wächst in unserm Garten.
Schöne Jutta ist die Braut, soll nicht länger warten.
Hinter einem Hollerbusch gab sie Reynevan ’nen Kuss,
Roter Wein, weißer Wein, morgen soll die Hochzeit sein!
Das Kloster von Weißkirchen war in drei Abteilungen gegliedert, die Reynevan unweigerlich mit den drei Kreisen der Weihe in
Verbindung brachte. Den ersten Kreis, natürlich keineswegs kreisförmig, bildeten das Gut des Klosters, der Garten, die Krankenstube,
das Refektorium und das Dormitorium der
conversae
sowie die Schlaf- und Wohnräume der Gäste. Der zweite Kreis, dessen Herz die Kirche darstellte, war für Gäste nicht zugänglich;
in dem Gebäude neben der Kirche befanden sich die Bibliothek und das Skriptorium sowie die Räume der Äbtissin. Den dritten
Kreis bildete die Klausur, das große Refektorium und das Dormitorium der Nonnen.
Die Klarissen von Weißkirchen hielten – zumindest nach außen hin – die Ordensregeln streng ein. Sie fasteten streng, Fleisch
gab es auf dem klösterlichen Speiseplan nicht. Sie wahrten während der Mahlzeiten Schweigen, die Große Stille währte von der
Komplet bis zur Messe des Konvents. Den ganzen Tag über waren sie mit Arbeit, Gebet, Buße und Kontemplation beschäftigt, es
stand ihnen nur eine Stunde für eigene Belange und zum Ausruhen zu, mit Ausnahme des Freitags, an dem es diese Stunde nicht
gab.
Die
conversae
– außer Jutta waren noch vier andere im Kloster, |619| alles Mädchen aus bedeutenden Geschlechtern – folgten einer etwas lockereren Regel, ihre Pflichten beschränkten sich im Prinzip
auf die Teilnahme an der Messe und am Unterricht, man verlangte von ihnen nicht einmal, sich an den Offizien zu beteiligen.
Je länger Reynevan im Kloster weilte, umso mehr Unterschiede bemerkte er. Was ihm sofort aufgefallen war, war das hier herrschende
ziemlich freie Verhältnis
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