Gotteszahl
sicher. Wo ist eigentlich Sulamitt?«
»Sulamitt ist zerbrochen, Schatz. Das weißt du doch noch.«
Mit einem Jahr hatte Kristiane ein kleines rotes Feuerwehrauto bekommen. Sie hatte das Auto zur Katze ernannt und Sulamitt getauft. Es hatte sie über acht Jahre lang treu begleitet. Nach und nach waren die Räder abgegangen und die Farben verblasst. Die Leiter auf dem Dach war längst verschwunden. Die Augen in den Scheinwerfern waren blind, und die kleine Sulamitt sah weder wie ein Feuerwehrauto noch wie eine Katze aus, als Yngvar sie aus Versehen in der Auffahrt überfahren hatte.
Kristiane war untröstlich gewesen. »Sulamitt war eine feine Katze«, sagte sie jetzt. »Kann ich eine neue Katze haben, Mama?«
»Wir haben doch Jack«, sagte Inger Johanne. »Er ist nicht gerade begeistert von Katzen.«
»Ich bin das unsichtbare Kind«, sagte Kristiane.
Inger Johanne ließ ihre Finger wie Schmetterlinge über die dünne Haut auf Kristianes Rücken schweben.
»Ab und zu sieht mich niemand.«
»Wann denn?«, flüsterte Inger Johanne.
»Sulamitt, Sulamat, Sulatulamitt und satt.«
»War das bei Tante Maries Hochzeit, dass niemand dich gesehen hat?«
»Mehr. Mehr kitzeln, Mama.«
»Hast du da denn jemanden gesehen? Auch wenn niemand dich gesehen hat?«
Inger Johanne versuchte verzweifelt, sich daran zu erinnern, was Kristiane damals im Hotel gesagt hatte, als sie selbst außer sich vor Angst und Wut gewesen war und eigentlich überhaupt nichts registriert hatte.
»Da ist eine Dame umgebracht worden«, sagte Kristiane und setzte sich neben ihrer Mutter plötzlich auf. »Marianne Kleive. Vorschullehrerin. Verheiratet mit der bekannten und preisgekrönten Dokumentarfilmerin Synnøve Hessel! Frauen können sich in Norwegen gegenseitig heiraten. Männer auch.«
Ihre Stimme war plötzlich wieder in den monotonen Predigtton umgeschlagen.
»Du liest zu viele Zeitungen«, sagte Inger Johanne lächelnd und legte den Arm um ihre Tochter.
»Innig geliebt, zutiefst vermisst.«
»Liest du jetzt auch Todesanzeigen?«
»Ein Kreuz bedeutet, dass ein Christ gestorben ist. Bei einem Davidsstern war es ein Jude. Was bedeutet der Vogel, Mama?«
Kristiane hob endlich den Blick und streifte den ihrer Mutter.
»Dass man dem Toten Frieden wünscht«, flüsterte Inger Johanne.
»Ich will einen Vogel in meiner Todesanzeige.«
»Du wirst nicht sterben.«
»Irgendwann werde ich sterben.«
»Das werden wir alle.«
»Du auch, Mama…«
»Ja, ich auch. Aber das dauert noch lange.«
»Das kannst du nicht wissen.«
Sie flüsterten nur. Sie saßen dicht nebeneinander auf dem Sofa, die Mutter hatte den Arm wie einen Sicherheitsgurt um die schmächtige Vierzehnjährige gelegt, und das Tageslicht flutete über den Boden und blendete sie fast. Inger Johanne konnte die Andeutung von Brüsten bei der kleinen Gestalt nicht übersehen, unvermeidliche Hinweise darauf, dass auch Kristiane erwachsen werden würde, selbst wenn die Pubertät spät eingesetzt hatte.
»Nein«, sagte Inger Johanne endlich. »Das kann ich nicht wissen. Aber ich glaube, dass es noch lange dauert. Ich bin gesund, Kristiane, und noch nicht sehr alt. Hast du schon mal einen toten Menschen gesehen?«
»Du musst vor mir sterben, Mama.«
»Ja, das hoffe ich. Eltern wollen immer vor ihren Kindern sterben.«
»Aber wer soll dann auf mich aufpassen?«
Seit Kristiane einige Stunden alt gewesen war, und seit Inger Johanne als Einzige verstanden hatte, dass mit diesem Baby etwas nicht stimmte, stellte sie sich schon diese Frage. Wieder und wieder.
»Dann bist du erwachsen, Herzchen. Dann kannst du auf dich selbst aufpassen.«
»Ich werde nie auf mich selbst aufpassen können. Ich bin nicht wie andere Kinder. Ich gehe auf eine Spezialschule. Ich bin Autistin.«
»Du bist keine Autistin, du bist …«
Inger Johanne legte Kristiane die Hand unter das Kinn. »Du bist nicht wie viele andere Kinder. Das stimmt schon. Du bist nur, nur du selbst. Ich habe dich so unendlich lieb, eben weil du die bist, die du bist. Und weißt du was, mein Herzchen?«
Ihr Lächeln wurde erwidert. Kristianes Blick wurde deutlicher.
»Ich bin auch nicht ganz wie alle anderen. Eigentlich glaube ich, dass es uns allen so geht. Wir kommen uns alle nicht ganz vor wie alle anderen. Und immer wird irgendwer auf dich aufpassen. Ragnhild zum Beispiel. Und Amund. Der ist doch dein Neffe.«
Kristiane lachte ihr sprödes, glasklares Lachen. »Die sind jünger als ich.«
»Ja, aber wenn ich sterbe, dann
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