Gotteszahl
sind sie erwachsen. Dann können sie auf dich aufpassen.«
»Ich habe einen toten Menschen gesehen. Die Seele wiegt einundzwanzig Gramm. Aber man sieht nicht, wie sie verschwindet.«
Inger Johanne sagte nichts. Noch immer lag ihre Hand unter dem Kinn ihrer Tochter, aber Kristianes Blick war nun wieder in sich gekehrt, zu dieser Stelle, die andere niemals wirklich erreichen. Ihre Stimme klang wieder tonlos und mechanisch, als sie dann sagte: »Marianne Kleive, zweiundvierzig Jahre alt, verstarb am 19. Dezember 2008. Bischöfin Eva Karin Lysgaard, innig geliebt, zutiefst vermisst, ging am Heiligen Abend 2008 unerwartet von uns. Die Beisetzung wird später stattfinden. Das Kreuz bedeutet, dass sie Christin war.«
»Hör auf«, flüsterte Inger Johanne und zog Kristiane an sich. »Hör jetzt auf.«
Es war gerade zwölf Uhr, und eine Wolke schob sich vor die scharfe Januarsonne. Eine angenehme Dunkelheit legte sich über das Wohnzimmer. Inger Johanne schloss die Augen und wiegte ihre Tochter hin und her.
»Ich bin das unsichtbare Kind«, flüsterte Kristiane.
Furcht
Vielleicht hätte er sich niemals ein Kind zulegen dürfen.
Bei dem bloßen Gedanken brannte die Magensäure in seinem Zwölffingerdarm. Er hob die Knie und legte die Hände an die Stelle, wo er in jüngeren Jahren hatte spüren können, dass die Rippen endeten und der Unterleib begann. Jetzt war alles nur weich, auch wenn er auf dem Rücken lag, ein schlaffer und viel zu großer Bauch mit einem stechenden Schmerz hinter einer Fettschicht.
Marcus Kolls ganzes Leben drehte sich um seinen Sohn.
Arbeit, Firma, Großfamilie, alles hätte ohne Cusi seinen Wert verloren. Rolf war in eine Zweisamkeit eingetreten. Sie waren dennoch bald zu einer Familie geworden, alle drei, zu einer Familie, die Marcus mit aller Kraft beschützen wollte. Aber der Junge war und blieb der eigentliche Mittelpunkt in Marcus Kolls Familienrad.
Cusi hatte sich Rolf rasch angeschlossen. Die Liebe war gegenseitig gewesen. Nach einer Weile hatte Rolf angedeutet, dass er seinen Stiefsohn eigentlich gern adoptieren würde.
Später hatte er dieses Thema nicht mehr erwähnt.
Marcus hatte niemals anderen über die Träume erzählt, die er als junger Mann gehegt hatte.
Er hatte sich Kinder gewünscht.
Er war ein starker Junge gewesen, der Kampf mit dem Vater hatte seinen Mann gefordert. Es hatte ihn überraschend wenig gekostet, zu dem zu stehen, was er war. Als Teenager hatte er stur in seinem Eigensinn wirken können, als Erwachsener wurde er klüger und geschmeidiger. Was Trotz gewesen war, wurde Zielstrebigkeit. Hochmut wurde zu Stolz. Er nahm seinem Anderssein durch Selbstironie die Spitze, und er verspürte niemals das Bedürfnis, die Schwulenszene aufzusuchen. Nicht die in Bergen, wo er studierte, und nicht die in Oslo, wo er sich nach dem Examen wieder niederließ. Im Gegenteil, er hatte es immer als Herausforderung betrachtet, die zu verführen, zu denen er sich hingezogen fühlte. Ehe er Rolf kennenlernte, hatte er ausschließlich heterosexuelle Männer erobert. Dass sie vor ihm Frauen geliebt hatten, war etwas, womit er sich in Gedanken brüstete. Dass sie nach ihm in ihr heterosexuelles Dasein zurückkehrten, machte ihn nicht ganz so stolz.
Marcus Koll jr. war für seine Zeit ein untypischer Schwuler gewesen.
Und er hatte sich ein Kind mehr gewünscht als alles andere. Der einzige Kummer, den er empfunden hatte, als er mit sechzehn oder siebzehn Jahren beschlossen hatte, sich nicht mehr zu verstellen, war, dass die Zukunft ihm keine Kinder bescheren würde. Er hatte diesen Kummer mit niemandem geteilt. Seine Mutter hatte es natürlich gesehen, so wie Mütter manchmal ihre Kinder besser durchschauen als diese sich selbst. Aber sie hatten niemals über den kleinen Hohlraum in Marcus’ Herzen gesprochen: Die Sehnsucht nach einem eigenen Kind, das er lieben könnte.
Viele Jahre hindurch war Marcus Koll dennoch ein zufriedener junger Mann gewesen.
Es ging ihm gut, und er hatte nie das Gefühl, wegen seiner Veranlagung abgelehnt zu werden. Nicht im Beruf und auch nicht unter Freunden und Kollegen. In vieler Hinsicht wurde er für die anderen zum politisch korrekten Alibi. In der zweiten Hälfte der Achtzigerjahre und zu Beginn der Neunzigerjahre war es noch längst nicht üblich, offen homosexuell zu sein, und seine Anwesenheit im Leben anderer Menschen wirkte in gewisser Weise wie eine Art Aushängeschild.
Er fühlte sich so wohl in seinem Leben, dass er nicht einmal
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