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Gotteszahl

Gotteszahl

Titel: Gotteszahl Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Anne Holt
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bemerkte, wie er müde wurde. Er war so beliebt, dass er nicht spürte, wie viel Kraft er aufwenden musste, um zu seinem Anderssein zu stehen. In dem durch und durch heterosexuellen Leben, das er führte, mit der kleinen Abweichung, dass er mit Männern ins Bett ging, ohne darüber zu lügen, trug seine Seele langsam immer mehr Risse davon, ohne dass er den Zusammenbruch hätte kommen sehen.
    Dann bekamen seine Freunde nach und nach Kinder.
    Marcus Koll wollte auch Kinder.
    Er hatte immer Kinder gewollt.
    Er fasste seinen Entschluss.
    Als er nach Kalifornien reiste, um einen Vertrag mit einer Leihmutter und einer Eispenderin abzuschließen, hatte er gerade erst die Leitung der väterlichen Firmen übernommen. Vor ihm lag die Zukunft, er hatte Geld genug, und außerdem konnte er die vielen USA-Reisen im folgenden Jahr mit dringenden Geschäften erklären.
    An einem späten Januarabend des Jahres 2001 war er einfach bei seiner Mutter aufgetaucht, mit dem Jungen in den Armen. Sie hatte alles verstanden, sowie sie die Tür öffnete, und fing an zu weinen. Behutsam nahm sie ihr neues Enkelkind, drückte es an die Brust und ging in die große Wohnung, die Söhne und Tochter ihr gekauft hatten, als sie plötzlich reich geworden waren. Sie hatte sich nicht ganz daran gewöhnt, aber als Marcus mit dem Kleinen gekommen war, setzte sie sich mitten auf das luxuriöse Sofa, auf dem noch nie jemand gesessen hatte.
    Sie schmiegte die Nase an die Wange des Jungen und flüsterte fast unhörbar: »Jetzt ist Oma zu Hause, mein Junge. Endlich ist Oma zu Hause. Und du bist zu Hause bei Oma.«
    »Er heißt Marcus«, hatte Marcus gesagt, und die Mutter weinte und weinte. »Nicht nach mir, sondern nach Opa.«
    Die Vorstellung, Cusi zu verlieren, war unerträglich.
    Vielleicht hätte er ihn niemals bekommen dürfen.
    »Bist du wach?«, murmelte Rolf und drehte sich zur Wand. »Wie spät ist es?«
    »Schlaf weiter«, flüsterte Marcus.
    »Aber warum schläfst du nicht?«
    Er drehte sich auf die Seite und legte den Kopf auf die Hand. »Du bist fast jede Nacht wach«, sagte Rolf und gähnte.
    »Nicht doch. Schlaf nur.«
    Das Licht der digitalen Ziffern des Weckers machte es möglich, im Zimmer überhaupt etwas zu sehen. Marcus starrte seine Hände an. Seine Haut schimmerte in der Dunkelheit grünlich. Er versuchte zu lächeln.
    Die Angst war mit dem Sohn gekommen. Das Anderssein, die unbestreitbare Tatsache, dass er nicht war wie alle anderen, wurde deutlicher. Sich selbst zu beschützen sei einfach, hatte er immer geglaubt. Als der Sohn in sein Leben trat, merkte er, wie ohnmächtig er sich fühlen konnte, wenn er mit Vorurteilen konfrontiert wurde, denen er bisher den Rücken gekehrt und die er als Überreste einer verlorenen Zeit abgetan hatte. Die Welt gehe doch vorwärts, hatte er immer gedacht. Als Cusi kam, hatte Marcus ab und zu das Gefühl, die Entwicklung der Gesellschaft beschreibe stattdessen eine unvorhersehbare asymmetrische Kurve, mit der er nur schwer Schritt halten konnte. Die Freude über die Liebe zu dem Jungen war allgegenwärtig. Die Angst, ihn nicht vor Bosheit und Vorurteilen der Welt beschützen zu können, zerriss ihn. Dann war Rolf gekommen, und vieles war besser geworden. Niemals ganz gut, noch immer fühlte Marcus sich in jeder Bedeutung dieses Wortes als Gezeichneter. Rolf bedeutete trotzdem Kraft und Glück, und Cusi hatte ein phantastisches Leben. Das war das Wichtigste, und Marcus bemühte sich, seine Phasen der Ohnmacht und der Depressionen für sich zu behalten. Und die stellten sich immer seltener ein.
    Bis Georg Koll, sein verstorbener verdammter Vater, ihm einen letzten Streich gespielt hatte.
    »Was ist los?«, fragte Rolf, jetzt wacher.
    Die Decke war halbwegs heruntergerutscht. Er war nackt und lag noch immer auf der Seite, das eine Knie vorgeschoben, das andere Bein ausgestreckt. Selbst in dem schwachen Licht waren seine Bauchmuskeln deutlich zu sehen.
    »Nichts.«
    »Natürlich ist irgendwas.«
    Die Decke raschelte, als er sie ungeduldig wieder über seinen athletischen Körper zog. »Kannst du es mir nicht sagen? Du bist in letzter Zeit wirklich nicht du selbst. Wenn es etwas mit der Arbeit ist, etwas, worüber du nicht sprechen kannst, dann sag das wenigstens. So geht es doch nicht, dass …«
    »Es ist wirklich nichts«, sagte Marcus und drehte sich auf die Seite. »Lass uns weiterschlafen.«
    Er wusste, dass Rolf so liegen blieb, wie er eben gelegen hatte, und spürte den brennenden Blick im

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