Gotteszahl
Stimme mitten in einem Refrain leiser.
Sie müsste etwas essen, aber sie hatte keinen Hunger.
Yngvars Besprechung schien kein Ende zu nehmen, es war drei Stunden her, seit sie ihn zuerst um Rückruf gebeten hatte.
Natürlich konnte sie sich an die Arbeit setzen.
Oder lesen.
Sich vielleicht einen Film ansehen.
Sie griff zum Telefon und wählte Isaks Nummer, ohne vorher darüber nachzudenken. Er meldete sich sofort.
»Hallo, hier ist Inger Johanne.«
»Hallo.« Sie hörte ihn am anderen Ende der Leitung lächeln.
»Ich wollte nur …«
»… fragen, wie es Kristiane geht«, sagte er. »Der geht es großartig. Wir waren im Bisletbad, obwohl Kinder da eigentlich nur am Wochenende Zutritt haben. Sie ist so leise, dass die Frau an der Kasse sie reinlässt.«
»Lässt du sie allein in die Damenumkleide gehen?«
»Ja, natürlich. Sie ist zu groß, um mit mir zu den Jungs zu kommen. Sie kriegt doch schon Brüste, hast du das gesehen? Und Haare untenrum. Unser Mädel wird groß, Inger Johanne, und natürlich lass ich sie allein in die Damenumkleide gehen.«
Sie gab keine Antwort.
»Inger Johanne«, sagte er resigniert. »Sie kommt wunderbar zurecht. Wir machen gerade Tacos, und sie hat das Hack ganz ohne Hilfe gebraten. Jetzt zerschnibbelt sie das Gemüse. Wenn sie bei mir ist, kochen wir immer zusammen. Sie wird bald vierzehn, Inger Johanne. Du kannst sie nicht ihr Leben lang als Baby behandeln.«
Sie ist ein Baby.
Das verletzlichste kleine Baby auf der ganzen Welt.
»Hallo?«
»Ja, sicher« murmelte Inger Johanne. »Ich bin hier. Wie schön, dass es euch gut geht. Ich wollte nur wissen, ob …«
»Willst du mit ihr reden? Sie steht hier.«
Im Hintergrund ertönte heftiger Lärm.
»Huch«, sagte Isak. »Da ist was zu Boden gegangen. Kannst du nachher noch mal anrufen?«
»Aber nein, das ist nicht nötig. Mach’s gut. Wir sehen uns am Freitag.«
»Bis dann.«
Er verschwand, und sie ließ das Telefon ein wenig zu achtlos auf den Couchtisch fallen. Als sie zu dem großen Fenster ging, schlich sie nicht mehr. Sie stampfte wütend über den Boden, ohne zu wissen, ob ihre Aggression sich gegen sie selbst oder gegen Isak richtete.
Noch immer hatte sie keine Vorhänge angebracht.
Der Schnee war so hoch, dass sie den Zaun zum Hauges vei nicht mehr sehen konnte. Niemand wusste noch, wohin mit dem aus den Einfahrten geschippten Schnee. Aus Mangel an anderen Möglichkeiten wurde er mitten auf die Straße geschafft, was dazu führte, dass er dort landete, woher er gekommen war, wenn dann ein Räumfahrzeug vorüberdröhnte.
Kein Mensch war zu sehen. Die Kälte der Fensterscheibe ließ sie frösteln. Der riesige Schneemann, den die Kinder aus dem Haus gegenüber am vergangenen Wochenende gebaut hatten, starrte sie aus kohlschwarzen Augen an. Er hatte die Nase verloren. Die Arme aus Birkenzweigen standen wie Hexenkrallen von ihm ab. Auf dem Kopf trug er eine ausrangierte Mütze, und ein knallroter Schal verdeckte sein halbes Gesicht.
Er erinnerte sie an den Mann am Zaun.
Sie trat einen Schritt zur Seite.
Am nächsten Tag würde sie Vorhänge besorgen.
Und dann wurde ihr klar, dass sie sich geirrt hatte.
Die Angst, die sie seit Weihnachten quälte, war nicht mit dem Mann am Zaun gekommen. Das Gefühl, dass jemand Kristiane im Auge behielt, war nicht entstanden, als ein Fremder gekommen war und sich nach ihren Weihnachtsgeschenken erkundigt hatte. Die Angst hatte bereits in ihr gesteckt. Die Jagd auf die verdammte Schweinerippe und der Stress, ein Weihnachtsfest zu bereiten, mit dem ihre Mutter zufrieden wäre, hatte das alles nur vorübergehend verdrängt.
Die Angst war seit der Hochzeit da. Seit Kristiane auf den Straßenbahnschienen gestanden hatte und Inger Johanne sicher gewesen war, dass ihre Tochter umkommen würde, hatte sie gespürt, dass ihre Verzweiflung noch etwas Größerem galt. Es war doch alles gut gegangen, und wenn sie auch übermäßig ängstlich war, konnte sie sich nicht erinnern, dass es ihr so schlecht gegangen war, seit Wencke Bencke sie vor fast fünf Jahren auf so subtile Weise bedroht hatte.
Inger Johanne lief zum Rechner und schaltete ihn ein.
Es schien eine Ewigkeit zu dauern, bis die Startseite aufgerufen wurde, und als sie den Namen der weltbekannten Krimiautorin eingab, verschrieb sie sich viermal, ehe sie den Namen endlich googeln konnte. 26 900 Treffer. Sie grenzte die Suche ein. Sie wollte über diese Autorin nur wissen, ob sie noch in Neuseeland lebte.
Wencke Bencke
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