Gotteszahl
Ghani war immerhin etwas passiert. Ein Phantombild war intern im Umlauf. Sie waren zu dem Schluss gekommen, dass es noch zu früh wäre, die Skizze zu veröffentlichen. Aller Erfahrung nach würde das zu einem Strom von Anrufen führen. Der Mann sah so durchschnittlich aus, dass sie in Hinweisen ertrinken würden. Knut Bork befasste sich weiter mit der Prostitutionsszene. Silje selbst wollte das Leben des Jungen seit seinem Eintreffen in Norwegen noch einmal durchgehen, um sich möglicherweise ein klareres Bild von Hawre Ghanis unglücklichem Schicksal machen zu können.
Der Falle Marianne Kleive lief auf Hochtouren.
Der Mord an der zweiundvierzig Jahre alten Vorschullehrerin hatte alles, was eine gute Mediengeschichte braucht. Die privaten Bilder, die Verdens Gang sich gekrallt hatte, zwei Stunden nachdem die Nachricht vom Leichenfund veröffentlicht worden war, zeigten eine selten schöne Frau. Wogende blonde Haare, eine schlanke, athletische Gestalt mit langen Beinen. Genau die Sorte Lesbe, wie die Medien sie liebten. Sie hat etwas von der Handball-Nationalspielerin Gro Hammerseng, dachte Silje, als sie unter dem Namen ein Foto befestigte, das sie aus der Zeitung herausgerissen hatte. Und die Ehefrau Synnøve Hessel war zwar nicht gerade berühmt, nahm aber in der norwegischen Filmszene eine so bedeutende Position ein, dass die Zeitungen zu der verkaufsfördernden Phrase »die bekannte und preisgekrönte« greifen konnten, wenn von der trauernden Witwe des Opfers die Rede war. Sie machte sich auf den Bildern übrigens auch sehr gut, sogar mit Daunenjacke und verfilzten Haaren auf 5208 Metern Höhe im North Base Camp in Nepal.
Hilfreich war auch, dass der Mord im ehrwürdigen Hotel Continental verübt worden war. Zwei Tage nach dem Fund widmete Verdens Gang eine Doppelseite dem Besuch bei einem Mann namens Fritjof Hansen, Faktotum im Hotel. Er hatte die Leiche gefunden, und aufgrund seiner enthusiastischen Vorliebe für die Fernsehserie CSI hatte er alle anderen vom Tatort ferngehalten, bis die Polizei zur Spurensicherung eingetroffen war. Auf dem Bild saß er mit einer Halbliterdose Bier und einer kleinen Tüte Kartoffelchips in einem Sessel und sah aus, als ob das Leid der ganzen Welt auf seinen Schultern ruhte.
Ab und zu wünschte Silje Sørensen, es gäbe keine Massenmedien. Ab und zu wünschte sie die Pressefreiheit zum Teufel.
Sie griff nach der Kaffeetasse.
Diese war leer.
Sie runzelte die Stirn und ließ ihren Blick von einem Namen zum anderen wandern. Sie nahm den Filzstift, ohne den Blick von der Tafel zu lösen. Sie entfernte die Kappe mit den Zähnen und schrieb unter Runar Hansens Namen und Todesdatum »SOFIENBERGPARK«. Unter Hawres Namen schrieb sie »STRICHER« und unter das Bild von Marianne Kleive in Bikinioberteil, Jeansshorts und Bergstiefeln bei Sonnenschein auf Gaustatoppen schrieb sie »PARTNERSCHAFT«.
Als sie ihren Hintern dann wieder auf den Schreibtisch schob, wurde an die Tür geklopft.
Sie nahm die Kappe aus dem Mund und rief: »Herein!«
Knut Bork gehorchte. »Hallo«, sagte er atemlos. »Ich wollte nur …«
»Komm her«, sagte Silje Sørensen. »Stell dich neben mich.«
Kommissar Bork zuckte mit den Schultern und gehorchte wieder. »Was machst du? Was ist das?«
Er nickte zur Pinnwand hinüber.
»Das sind die drei Mordfälle, für die ich im Moment verantwortlich bin.«
»Drei sind zu viel.«
»Ich hatte vier. Hab einen weitergereicht. Siehst du daran etwas Auffälliges?«
»Auffälliges? Dann muss ich erst noch mal in die Unterlagen schauen und …«
»Nein. Du kennst die Fälle, Knut. Sieh dir einfach mal an, was da an der Pinnwand hängt.«
Er runzelte die Stirn, sagte aber nichts.
»Sieh dir an, was ich unter die Namen geschrieben habe.«
»Sofienbergpark«, las er. »Stricher. Partnerschaft.«
Noch immer konnte er da keinen Zusammenhang erkennen.
»Weshalb ist der Sofienbergpark bekannt?«, sagte sie.
»Tja … doch! Die Krankenwagenfahrer, die …«
»Nein. Doch, das auch, wofür noch? Und ich rede jetzt nicht von dem Teil des Parks, der westlich der Sofienbergkirche liegt, sondern von dem dahinter. Dem östlichen.«
»Homosex«, sagte er sofort. »An- und Verkauf und Tauschhandel. Ich würde da im Dunkeln nicht unbedingt hingehen.«
»Genau«, sagte Silje und lächelte müde. »Und da wurde Runar Hansen gefunden. Er wurde an einem kalten, regnerischen Novemberabend zwischen Mitternacht und halb eins gefunden. Das ist so ungefähr das Einzige, was
Weitere Kostenlose Bücher