Gotteszahl
richtige Adressat für ein solches Dokument war, und um nichts falsch zu machen, wollte sie ins Postamt gehen und es per Einschreiben senden. Besser, man setzte in solchen Dingen auf Nummer sicher. Einmal hatte das Gericht behauptet, Anwalt Faber habe eine Einspruchsfrist überschritten, obwohl sie hundertprozentig sicher war, das entsprechende Schreiben rechtzeitig abgeschickt zu haben.
Das Testament war zwar nicht so wichtig wie ein Berufungsantrag, aber die Strafpredigt, die ihr Chef ihr damals gehalten hatte, steckte ihr noch in den Knochen. Sie zog ihren Mantel an, steckte den Brief in die Handtasche und summte ein Liedchen, als sie die Tür abschloss und in den strahlenden Vormittag hinausging.
Vernunft und Gefühle
Ordner heute Morgen gefunden. War bei einem Sonderlehrer falsch abgelegt worden. Bedaure den Ärger. (Smiley) Live Smith.
Inger Johanne las die SMS zweimal und wusste nicht, ob sie erleichtert war oder sich ärgerte. Einerseits war es natürlich gut, dass Kristianes Ordner wieder aufgetaucht war. Andererseits machte es ihr Angst, dass die Schule mit sensiblen Daten dermaßen schlampig verfuhr. Als sie die Bürotür hinter sich schloss, fragte sie sich, warum sie nicht außer sich vor Freude war. Wenn Kristianes Ordner wirklich nur verlegt gewesen war, müsste das ihre Unruhe dämpfen, dass jemand ihre Tochter im Auge behielt.
Sie steckte ihr Telefon in die Umhängetasche und schlich ungesehen aus dem Gebäude. Es war erst zwei Uhr, und sie konnte sich nur darauf konzentrieren, dass sie Yngvar erreichen musste. Noch hatte er sich nicht gemeldet, und er ging nicht ans Telefon, wenn sie anrief.
Sie wusste längst nicht mehr, wie oft sie es versucht hatte.
Anwalt Fabers Sekretärin beschloss, ihre Bestellung sicherheitshalber telefonisch aufzugeben. Der Feinkostladen Laksen in Bjølsen war die beste Adresse für Kalbsleber, und ihr Mann liebte sonntags ein gutes Lebergericht. Es musste Kalb sein, sonst schmeckte es zu streng. Vielleicht hatte der Laden auch noch Laugenfisch, selbst wenn die Saison schon vorüber war. Dann würde es am Samstag Fisch und am Sonntag Kalb geben, dachte sie zufrieden. Als sie zum Hörer greifen wollte, klingelte das Telefon. Sie nahm ab und sagte ihren gewohnten Spruch auf.
»Anwaltskanzlei Faber, was kann ich für Sie tun?«
Kristen hatte versucht, ihr das »Sie« abzugewöhnen, das die Kanzlei seiner Ansicht nach altmodisch wirken ließ. Die Sekretärin aber bestand darauf, es war einfach nicht natürlich für sie, Menschen, die sie nicht kannte, zu duzen.
»Hallo, Liebe.«
»Hallo, du«, sagte sie freundlich. »Ich wollte gerade bei Laksen anrufen und Laugenfisch und Kalbsleber bestellen, damit wir am Wochenende richtig schlemmen können.«
»Schön«, sagte ihr Mann. »Darauf freue ich mich. Ist Anwalt Faber da?«
»Kristen? Willst du mit Kristen sprechen?«
Sie hätte nicht überraschter sein können, wenn er plötzlich vor ihr gestanden hätte. Ihr Mann hatte noch nie einen Fuß in die Kanzlei gesetzt und war Kristen Faber nie begegnet. Die Kanzlei war ihr Reich. Seit Bjarne nicht mehr richtig sehen konnte und in Frührente gegangen war, hatte er einige Male vorgeschlagen, in die Innenstadt zu kommen und sich anzuschauen, wo sie ihre Tage verbrachte. Das komme nicht infrage, hatte sie gesagt. Zu Hause war das eine, die Kanzlei das andere. Sie sprach zwar immer wieder über ihre Arbeit, und sie lachten herzlich über die Unterlagen, die sie ihm ab und zu zeigte, aber irgendeine Verbindung zwischen ihrem Mann und ihrem unhöflichen, lärmenden Chef wollte sie nun wirklich nicht zulassen.
»Was willst du von ihm?«
»Ja, du musst wissen … Es stimmt etwas nicht mit dem Testament, das du gestern mitgebracht hast.«
»Da stimmt was nicht? Wie meinst du das …?«
Sie hatte es ihm am Vorabend laut vorgelesen. Ihr Mann konnte zwar noch lesen, bat sie aber wegen seiner Sehstörungen immer häufiger, ihm vorzulesen. Eigentlich gefiel ihr das gut. Nach den Fernsehnachrichten las sie ihm meistens laut aus den Zeitungen vor, und sie führten große und kleine Dialoge über die Ereignisse des Tages.
»Da ist irgendetwas …«
Anwalt Faber kam zur Tür hereingestürzt. »Ich muss was essen«, sagte er atemlos. »Die Mittagspause ist in knapp einer Stunde vorbei, und ich hab mich bei einigen Unterlagen blamiert. Ein Baguette oder so, ja?«
Die Sekretärin nickte, die Hand über dem Hörer. »Ich geh sofort los«, sagte sie.
Sowie die Tür zu seinem
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