Gotteszahl
Weihnachten wie besessen schneite, konnte er ein gutes Tempo beibehalten. Nicht zu schnell natürlich, zwei, drei Kilometer schneller als erlaubt, damit erregte man den geringsten Verdacht. Bei der Ausfahrt aus Oslo war lebhafter Verkehr gewesen, schon um drei Uhr, aber kaum hatte er zwanzig Kilometer auf der E 6 hinter sich gebracht, wurde es ruhiger. Die Karte zeigte, dass er sich so ziemlich an der Küste hielt. Wahrscheinlich herrschte im Sommerhalbjahr auf dieser Strecke Chaos. Das Meer lockte bei acht Grad minus und starkem Wind offenbar nicht ganz so sehr.
Er näherte sich dem Svinesund, es war zehn vor fünf.
Er wollte nach Kopenhagen fahren und den Wagen bei Avis in der Kampmannsgade abliefern. Danach würde er einige Straßen zu Fuß hinter sich bringen, um sich dann von einem Taxi zu einer günstigen Pension am Rand der Innenstadt fahren zu lassen. Das letzte Flugzeug nach London würde er auf keinen Fall noch erreichen. Seine dunkle Kleidung hatte er nicht mehr. Er hatte über zwei Stunden gebraucht, um sie in Streifen zu schneiden, die er dann in kleine Bündel aufteilte und in die vielen Außen- und Innentaschen des roten Anoraks verteilte. Dadurch sah er dicker aus, was ihm nur recht war. In einer knappen Stunde hatte er ein Stoffbündel nach dem anderen in öffentliche Papierkörbe geworfen, an denen er auf seinem Spaziergang durch Oslo vorbeigekommen war.
Die Abreise hatte sich plötzlich ergeben.
Er konnte nur wenig Norwegisch, gerade genug, um einfache SMS zu schicken. Ein Blick auf den Zeitungsständer neben dem Tresen hatte ihm am Morgen klargemacht, dass es eilte. Er hatte nicht überstürzt gehandelt, aber seine Anweisungen waren deutlich gewesen.
Die anderen waren sicher auch dabei, das Land zu verlassen. Rein zum Zeitvertreib hatte er sich abends alternative Routen ausgesucht. Nur im Kopf natürlich, es gab in Norwegen nicht ein einziges Stück Papier mit seiner Handschrift. Abgesehen von den verstellten Kringeln auf den Quittungen, wenn er seine Kreditkarten benutzt hatte. Die waren zwar echt, jedoch auf fiktive Namen ausgestellt. Er hatte darauf geachtet, dass er nur unterschrieb, wenn er den Mantel trug. Damit fiel es nicht so auf, dass er seine langen schweinsledernen Handschuhe anbehielt.
Der oder die, die sich in Bergen aufhielten, würden zum Beispiel nach Stavanger fahren, um von dort nach Amsterdam zu fliegen. Aber die Reiserouten der anderen waren ebenso wenig seine Angelegenheit wie deren Identität.
Er hatte allein operiert, wusste aber, dass er nicht allein war.
Er hatte gelernt, falsche Spuren zu legen und seine eigenen zu verbergen. Er wich Überwachungskameras aus, soweit das überhaupt möglich war. Wenn er sich ein seltenes Mal in eine überwachte Zone begeben musste, änderte er seinen Gang, schob die Lippen vor, blähte die Nasenflügel. Und schaute zu Boden.
Außerdem war sein Äußeres glücklicherweise durchschnittlich.
Es war, als wäre er niemals in Norwegen gewesen.
Vor ihm ragte die Svinesundbrücke auf. Es gab keine Zollschranke, keine Kontrollen. Auf der anderen Seite der Fahrbahn lag zwar eine Zollstation, wo soeben ein LKW durchsucht wurde, aber von ihm wollte niemand irgendwelche Papiere sehen. In der Mitte der hohen Brücke überquerte er die imaginäre Linie, die Norwegen und Schweden trennte, und er musste lächeln.
Naive Skandinavier. Dumme, naive Europäer. Er hatte diesen Auftrag bekommen, weil er auf der Militärakademie Schwedisch gelernt hatte. Aber er war noch niemals in Schweden gewesen, und dieser Besuch verlockte auch nicht zu einer Wiederholung.
Er fuhr eine gute Viertelstunde lang weiter. Bei einer passenden Abzweigung verließ er die Hauptstraße. Die Straße war schmal, und bald führte ein Waldweg nach rechts. Langsam ließ er den Wagen noch hundert Meter durch den Tannenwald rollen. Dann hielt er an und schaltete den Motor aus. Trotz des dichten Waldes lag der Schnee ziemlich hoch, und nur eine Traktorspur machte es ihm überhaupt möglich, diesen Weg zu befahren.
Er stieg aus.
Es war kalt, aber fast windstill.
Er atmete die klare, reine Luft ein und lächelte wieder. Als er hochblickte, konnte er Sterne und durch zwei schwach wogende Baumwipfel ein Stück vom Mond sehen.
Er schloss die Augen, legte die Arme auf das Autodach und den Kopf auf die gefalteten Hände. » Dear Lord «, flüsterte er. » Thank You for all Your blessings .«
Die vertraute Wärme stieg in seinem Körper auf wie ein Rausch, und er flüsterte ein
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