Gotteszahl
Luft, um etwas zu sagen, überlegte es sich dann aber anders.
Es gab nichts mehr zu sagen.
Irgendwann würde der Vater in seiner Trauer an einem Wendepunkt ankommen. Er selbst fühlte sich auf seltsame Weise erleichtert, seit Stubø angerufen hatte, als er morgens William angezogen hatte. Auch der Vater würde mit der Zeit Trost darin finden, dass die Mutter für etwas gestorben war, woran sie glaubte.
Es hatte keinen Sinn mehr, dem Vater wegen des Fotos zuzusetzen.
Als Astrid am Vorabend erzählt hatte, dass sie Yngvar Stubø das Bild gegeben hatte, konnte Lukas sich kaum beruhigen. Er hatte getobt und geflucht und sogar eine Glasvase auf den Küchenboden geworfen. Sie war in tausend Stücke zersprungen, und erst, als er Astrids entsetzten Blick sah und begriff, dass sie Angst hatte, er könne auch auf sie losgehen, hatte er sich beruhigt.
Jetzt spielte es keine große Rolle mehr.
Der Mord an seiner Mutter würde bald aufgeklärt sein und hatte offenbar nichts mit einer verschwundenen Schwester zu tun. Yngvar Stubø hatte ihm am Telefon versprochen, das Foto zurückzubringen, sowie sie es kopiert hätten. Es sei offenbar für den Mordfall doch nicht so wichtig, wie er zuerst angenommen hatte. Die Leiche werde freigegeben, und die Beerdigung könne bereits in fünf Tagen stattfinden.
Das würde ihnen allen helfen.
Auch dem Vater, dachte er. Für den Vater war es wichtiger als für alle anderen, dass ein Schlusspunkt gesetzt wurde.
Wenn das alles vorüber wäre, würde Lukas in aller Ruhe nach seiner Schwester suchen. Egal wie Astrid das sah. Jedenfalls brauchte er seinen Vater nicht noch einmal mit der Frage zu belästigen, warum das Bild aus dem Zimmer der Mutter entfernt und auf dem Dachboden versteckt worden war.
Sein Hals tat noch immer weh. Der Tee schmeckte bitter und er stellte die Tasse weg.
Der Vater schlief. Jedenfalls sah es so aus, seine Augen waren geschlossen, und der magere Brustkorb hob und senkte sich langsam und regelmäßig.
Lukas beschloss zu bleiben. Er machte die Augen zu, zog die alte Schlummerdecke seiner Mutter über sich und nickte ein.
Eines langen Tages Reise in die Nacht
Als das Telefon klingelte, hatte er das Gefühl, dass jemand an ihm zerrte. Yngvar drehte sich auf die andere Seite und versuchte, seine Wade aus dem fremden Griff zu befreien. Er trat um sich, zog die Decke hoch und stöhnte noch einmal. Sein Mobiltelefon wurde lauter, und Inger Johanne presste sich das Kissen aufs Gesicht.
»Das ist deins«, sagte sie verschlafen. »Jetzt geh schon ran. Oder schalt es aus.«
Yngvar fuhr hoch und versuchte zu begreifen, wo er war.
Verwirrt tastete er auf dem Nachttisch herum. Sein altes Telefon war nicht mehr zu reparieren gewesen, und der Klingelton des neuen war ihm fremd. »Hallo«, murmelte er und sah, dass die Uhr 05.24 zeigte.
»Guten Morgen. Hier ist Sigmund. Hab ich dich geweckt? Hast du Verdens Gang gesehen?«
»Mitten in der Nacht seh ich mir ja wohl nicht die Boulevardpresse an!«
»Weißt du, was da steht?«
»Natürlich nicht«, murmelte Yngvar. »Aber ich vermute, du hast vor, es mir zu erzählen.«
»Geh weg«, stöhnte Inger Johanne.
Yngvar stellte die Füße auf den Boden und rieb sich das Gesicht. »Moment noch«, sagte er leise und schob die Füße in ein Paar dunkelblaue Crocs.
Inger Johanne und er waren bis drei Uhr auf gewesen. Als sie ihre Diskussion endlich beendet hatten, wollten sie sich mit einer alten Folge einer Krimiserie beruhigen.
Jetzt war Yngvar fast bewusstlos.
Er stolperte ins Badezimmer, und sein Urinstrahl sang in der Toilette, als er das Telefon ans Ohr hob und sagte: »Jetzt höre ich.«
»Pisst du? Pisst du, während wir miteinander reden?«
»Was ist mit der Zeitung?«
»Die haben, verdammt noch mal, alle Namen. Die der Opfer.«
Yngvar schloss die Augen zu einer inbrünstigen Verwünschung.
»Keine Ahnung, wie die das schaffen«, sagte Sigmund. »Aber jetzt sind die Wölfe los. Überall Pressefritzen, Yngvar! Die hängen bei mir und bei allen anderen an der Strippe und …«
»Mich hat niemand angerufen.«
»Das kommt schon noch.«
Yngvar stapfte in die Küche. Er versuchte, ganz leise zu sein, als er mit einer Hand den Wasserkocher füllte. »Ich weiß ja, dass wir in deep shit stecken, was die undichten Stellen hier angeht«, sagte er und gähnte. »Aber musst du mich deshalb wirklich vor halb sechs an einem Samstagmorgen wecken?«
»Ich rufe dich nicht in erster Linie deshalb an. Ich rufe an, weil …«
In
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