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Gotteszahl

Gotteszahl

Titel: Gotteszahl Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Anne Holt
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einen Moment aufrichtig verzweifelt über das, was er jetzt zu tun hatte.
    Dann begriff er, dass es ein unschuldsreines Kind war.
    So wie Anthony, der zu früh und mit einem Gehirnschaden geboren worden war, der ihn daran gehindert hätte, jemals erwachsen zu werden. Dieses Mädchen war auch so ein Kind. Das hatte er bereits nach wenigen Sekunden gesehen.
    Er ließ sie aus dem Keller fliehen.
    Um seiner Sache ganz sicher zu sein, hatte er sie im Auge behalten. Nachdem er sie vor der Straßenbahn gerettet hatte, war es einfach gewesen, einem der erregten, festlich gewandeten Zuschauer ihren Namen zu entlocken. Richard hatte nur dort gestanden, auf der anderen Straßenseite, bis die Mutter das Kind ins Haus getragen hatte. Ein Mann, der immer neue Raucher mit seinem dramatischen Augenzeugenbericht unterhielt, hatte ihm nur zu gern den Namen der Mutter genannt, als er behauptete, er würde ihr gern Blumen schicken. Die Adresse hatte er im Netz gefunden.
    Die Kleine hatte ihn leider daran gehindert, die Frau so zu töten, wie er es ursprünglich vorgehabt hatte: als Unfall getarnt. Aber daran war nicht das Kind schuld. Er war zum Glück geistesgegenwärtig genug gewesen, um die Frau und ihre Handtasche zu durchsuchen, ihr Ticket nach Australien zu finden und ihr Mobiltelefon an sich zu nehmen. Danach war er auf ihr Zimmer gegangen, hatte ihr Gepäck geholt und die Rechnung bezahlt. Das Chaos in der Rezeption kam ihm wie gerufen, er verschwand in der Menge von Festgästen und Betrunkenen. Ihren Koffer versteckte er ganz hinten in einer nicht abgeschlossenen Besenkammer unter einem riesigen Pappkarton, der so eingestaubt war, dass ihn wohl seit Jahren niemand mehr angerührt hatte. Das Verschwinden der Frau durfte nicht sofort entdeckt werden, und indem er an den folgenden Tagen kurze, nichtssagende Mitteilungen verschickte, hatte er sich eine ausreichende Frist erkauft. Jede Minute, die zwischen einem Mord und dem Beginn der Ermittlungen verstrich, minderte die Gefahr einer Entdeckung.
    »Darf ich Ihnen ein Kissen bringen?«, hörte er plötzlich die Stewardess flüstern.
    Ohne die Augen zu öffnen, schüttelte er ganz kurz den Kopf.
    Die Mutter der Kleinen war hysterisch. Dass sie ihm eine Ohrfeige verpasst hatte, nachdem er ihr Kind gerettet hatte, war das eine. Kurz nach Weihnachten hatte er zudem einmal zweihundert Meter von dem weißen Haus, in dem die Familie wohnte, entfernt gestanden. Ein Mann war vom Nachbargrundstück gekommen und zum Zaun gegangen, um mit den beiden Mädchen zu plaudern, die im Garten spielten. Die Mutter stand am Fenster und starrte sie an. Sie war außer sich vor Angst, als sie die Kinder dann ins Haus holte.
    Fast wie Susan, dachte er, obwohl er es sich selten erlaubte, an Susan zu denken. Auch sie hatte sich immer so große Sorgen um Anthony gemacht.
    Er erlebte es nicht zum ersten Mal, dass die, die er beobachtete, das beängstigende Gefühl hatten, beobachtet zu werden. Natürlich sahen sie ihn nie, auch die Mutter des schönen Kindes hatte ihn nicht gesehen, als er ihnen mit seinem Mietwagen zur Schule gefolgt war und als ihm bestätigt wurde, dass dieses Kind nicht wie alle anderen war. Er war viel zu gut trainiert, um jemals gesehen zu werden. Aber sie spürte ihn. Richard hatte einige Zeit gebraucht, um zu verstehen, wer der Vater des Mädchens war. Der war schon beim ersten Mal ängstlich geworden. Richard musste wissen, ob das Kind sich anders verhielt, wenn es nicht bei der Mutter war. Er hatte die beiden bei drei verschiedenen Gelegenheiten beobachtet. Der Mann fing sehr früh an, sich immer wieder umzusehen.
    Der Kerl, der auf der Anhöhe über der Stadt wohnte, mit einer Karikatur von Familie, reagierte auch so. Fühlte sich verfolgt. Sein Liebhaber hatte total hysterisch gewirkt, als er am Montag vor fast zwei Wochen Autospuren fotografiert hatte. Richard hatte allem aus sicherer Entfernung zugesehen. Zwei dunkelhaarige junge Männer waren in einem großen BMW gekommen, Pakistani wahrscheinlich, von denen wimmelte es ja in Oslo. Offenbar hatten sie irgendeine Auseinandersetzung, denn sie hielten auf dem kleinen Platz vor dem Tor zum Wohnsitz der Möchtegernfamilie und blieben eine ganze Weile dort stehen. Sie gestikulierten heftig und rauchten eine Menge Zigaretten, bis sie dann endlich weiterfuhren.
    Der Schwule hatte ihn gespürt, aber nicht gesehen, wie die anderen.
    Sie sahen Richard nicht, und wenn er es sich genauer überlegte, spürten sie ihn auch nicht.
    Was sie

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