Gotteszahl
Und Hawre Ghani, der wurde ins Wasser geworfen und bis zur Unkenntlichkeit entstellt. Ich glaube, sein Fall wäre ganz unten im Stapel liegen geblieben, wenn nicht Silje Sørensen für diesen Jungen … etwas Besonderes empfunden hätte.«
»Worauf willst du eigentlich hinaus, Inger Johanne?«
»Ich will meinen eigenen Wein. Holst du mir ein Glas?«
Er erhob sich wortlos.
Inger Johanne starrte auf ihre Notizen. Sechs Morde. Zwei davon getarnt, zwei übersehen. Ganz einfach, weil die Opfer ganz unten auf jeder menschlichen Rangleiter standen. Inger Johanne malte einen kräftigen Ring um die beiden letzten Namen.
»Hier«, sagte Yngvar und reichte ihr ein halbvolles Glas. »Das ist nicht gerade ein normaler Freitagabend. Bis auf den Wein, meine ich.«
»Was wir fast mit Sicherheit sagen können«, sagte Inger Johanne und nahm das Glas, ohne aufzublicken, »ist, dass beim Mord an Marianne Kleive etwas Unvorhergesehenes geschehen ist. Der Täter wurde auf irgendeine Weise von Kristiane überrascht. Mit anderen Worten: Wir können nicht wissen, ob nicht auch dieser Mord hätte getarnt werden sollen. Als Unfall. Krankheit. Irgendwas. Damit nicht sofort Alarm geschlagen würde, hat der Mörder von ihrem Telefon aus Mitteilungen verschickt. Das hat ihm eine ganze Woche eingebracht.«
»Bedeutete das nicht einfach nur, dass sie nicht gefasst werden wollen, dass sie sich Zeit kaufen wollen, dass sie …«
»Aber denk an die Bischöfin«, sagte Inger Johanne und stellte fest, dass die Stelle, die sie bekritzelte, sich links neben einem Bild von Eva Karin Lysgaard befand.
Sie drehte die alte Zeitung um neunzig Grad und zeichnete ein Viereck um das kleine Porträt. »Dieser Mord wurde nicht getarnt«, sagte sie fast zu sich selbst.
Yngvar war klug genug, den Mund zu halten.
»Im Gegenteil«, fügte sie hinzu. »Erstochen auf offener Straße. Zwar an dem einen Abend im Jahr, wo man ziemlich sicher sein kann, dass niemand unterwegs ist, aber dennoch … Sie sollte schnell gefunden werden. Und der Mord an …«
Sie hielt so lange den Atem an, dass Yngvar sich schon fragte, ob etwas nicht stimme.
»Natürlich«, sagte sie plötzlich laut und schaute Yngvar an. »Gehen wir davon aus, dass meine Theorie zutrifft. Die anderen Morde sollten auf irgendeine Weise als etwas anderes verstanden werden. Der Sinn war ganz einfach …«
Sie starrte ihn an, als hätte sie seine Anwesenheit jetzt erst bemerkt. »… Sie sollten sterben«, sagte sie überrascht. »Sie sollten ganz einfach sterben. Der Tod war das Ziel an sich.«
Yngvar fand es ziemlich normal, dass man mordet, damit jemand danach tot ist, aber er hielt weiterhin den Mund.
»Sie sind Sünder«, sagte Inger Johanne, jetzt fast begeistert. »Und deshalb sollten sie bestraft werden. Den › 25ern ‹ ist es doch egal, ob wir anderen einen Zusammenhang sehen oder ob wir überhaupt begreifen, dass sie einem Verbrechen zum Opfer gefallen sind. Wichtig ist, dass sie sterben, und danach, dass die Mörder, Gottes Vollstrecker gewissermaßen, sich der weltlichen Gesetzgebung entziehen können.«
»Ja«, sagte Yngvar vorsichtig.
Mehr fiel ihm nicht ein.
»Von den Opfern ist nur eins öffentlich bekannt«, sagte Inger Johanne. »Eva Karin Lysgaard. Sie ist die Einzige, die auf eine Weise getötet wurde, die nach Aufmerksamkeit geradezu schreit. Woran kann das liegen, Yngvar?«
Sie kniete jetzt und drehte sich ihm zu. Ihr Gesicht loderte. Ihre Augen glänzten, ihr Mund stand halb offen. Sie packte seine Hand und drückte so fest zu, dass es fast wehtat. »Warum, Yngvar?«
»Weil«, sagte er. »Weil …«
»Weil sie wollen, dass wir in ihrem Leben herumgraben. Wir sollen ermitteln, Yngvar! Wir sollen ihr Leben auf den Kopf stellen, so wie die Leben aller Mordopfer auf den Kopf gestellt und dann durchgeschüttelt werden, in der Hoffnung, dass etwas herausfällt.«
»In der Hoffnung, dass etwas herausfällt«, wiederholte er leise. »Warte einen Moment.«
Inger Johanne ließ ihn nicht aus den Augen, als er durch das Zimmer stapfte und auf dem Gang verschwand. Sie war außer Atem und ihre Handflächen prickelten, als er zurückkam und ihr ein Foto reichte, ehe er sich wieder setze.
»Wer ist das?«, fragte sie.
»Ich weiß nicht, wer es ist«, sagte er. »Aber es ist eine Kopie von einem Bild, das auf Abwege geraten war.«
Er erzählte ihr von Eva Karins nächtlichem Zufluchtsraum. Von dem Foto, das am Tag nach dem Mord dort gestanden hatte, das bei seinem nächsten
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