Gotteszahl
gewesen, ein solches Risiko einzugehen. Wenn er aus irgendeinem unvorhersehbaren Grund die Organisation hätte erreichen müssen, gab es eine Notnummer in der Schweiz. Aber so weit war es nie gekommen.
Während Richard A. Forrester sich in Norwegen aufgehalten hatte, war es auf seinem Laptop dagegen umso lebhafter zugegangen. Der befand sich in Großbritannien und wurde betreut von einem untersetzten Burschen mit schönen Zähnen und kurz geschorenen dunklen Haaren. Der Mann tingelte mit Urlaubsangeboten der Forrester Travelling über die Dörfer. Diese Firma gehörte Richard. Er hatte sie zwei Jahre nach dem Tod seiner Frau und seines kleinen Sohnes gegründet. Sie waren von einem Betrunkenen getötet worden, der Fahrerflucht begangen und sich dann selbst vier Kilometer weiter zu Tode gefahren hatte.
Offiziell also hatte Richard A. Forrester sich seit dem 15. November in England aufgehalten. Das war natürlich nur eine Sicherheitsmaßnahme, niemand würde jemals danach fragen.
Er senkte die Rückenlehne so weit wie möglich und zog die weiche Decke höher. Es war erst neun Uhr morgens, aber in der vergangenen Nacht hatte er kaum geschlafen. Es tat gut, die Augen zuzumachen.
Der Tod von Susan und dem kleinen Anthony hatte auch sein Leben beendet.
Er hatte versucht, ihnen mit seinem Selbstmord in den Himmel zu folgen. Das hatte nur dazu geführt, dass er sich nicht mehr als Angehöriger der US Marines betrachten konnte. Suizidale Soldaten konnten sie nicht gebrauchen, und Richard musste sich ohne Arbeit, ohne Frau und Kind der Zukunft stellen. Ihm blieben nur eine kleine Pension, ein Koffer voller Kleider und eine Lebensversicherung, die nach dem Unfall ausgezahlt wurde und die er im Grunde gar nicht wollte.
»Kann ich Ihnen etwas anderes anbieten?«, fragte die schöne Stewardess leise, sie beugte sich über den leeren Sitz neben ihm und lächelte. »Kaffee? Tee? Einen Imbiss?«
Er erwiderte das Lächeln und schüttelte den Kopf.
Nach der Katastrophe hatte er sich drei Monate lang treiben lassen. In der Regel sturzbetrunken und besessen von einer allumfassenden Wut. Eines Abends war er aus einer Bar in Dallas geworfen worden. Halb bewusstlos blieb er in einer Seitenstraße liegen, bis ein Mann aus dem großen Nichts auftauchte und ihm eine Begegnung mit Gott anbot. Da Richard sonst niemanden hatte, mit dem er sich hätte treffen können, ließ er sich auf die Beine ziehen und zu einer zwei Straßen weiter gelegenen kleinen Kapelle führen.
An diesem Abend begegnete er dem Herrn, wie der Fremde es versprochen hatte.
Richard Forrester fuhr sich durch die Haare. Es tat gut, sie wieder wachsen zu lassen. Sie waren dicht, ohne auch nur eine Andeutung von einer dünnen Stelle, und er trug sie immer kurz. Wenn er sie abrasierte, änderte sich sein Aussehen dennoch auf bemerkenswerte Weise.
Er legte sich bequemer hin, knipste die Lampe über seinem Kopf aus und zog die Jalousie vor das Fenster.
Der Gott, der ihm an einem Novemberabend des Jahres 2002 in Dallas begegnet war, hatte wenig von dem Gott, den er von zu Hause kannte. Seine Eltern waren Methodisten gewesen, wie die meisten in der Kleinstadt, in der er aufgewachsen war. Als Kind hatte Richard seine Religion eher als eine soziale Anwesenheit in einer Gemeinde voller Zusammengehörigkeitsgefühl betrachtet denn als eine persönliche Beziehung zu Gott. Es gab den Gottesdienst am Sonntag und ab und zu einen Kirchenbasar. Es gab den Fußballclub und den Mütterverein, es gab Grillfeste und Weihnachtsfeiern. Richard war vor allem mit einem umgänglichen Gott aufgewachsen, der ihm keinen besonderen Eindruck gemacht hatte.
Als der Fremde mit ihm in die Kapelle ging, begegnete Richard dem Allmächtigen. In dieser Nacht wurde ihm eine Offenbarung zuteil. Gott kam mit einer Gewalt zu ihm, die ihn zuerst glauben ließ, er müsse sterben, die ihn aber dann in einen Zustand des Friedens und der Hingabe versetzte. Diese Nacht in der Kapelle wurde Richard Forresters Katharsis. Als der Morgen heraufzog, war er neugeboren.
Sein Leben als Soldat des Vaterlandes, als Ehemann und Vater war vorüber.
Das Leben als Soldat Gottes hatte begonnen.
Nie wieder rührte er Alkohol an.
Richard Forrester lauschte auf das leise Dröhnen der Motoren und sah das schöne Kind vor sich.
Sie hatte ihn gesehen. Als die Frau, die sterben sollte, allein im Keller verschwunden war, hatte sich eine Gelegenheit ergeben, die er am Schopf packen musste. Als das Kind auftauchte, war er für
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