Gotteszahl
drehte es in seiner Hand. Sein linkes Knie zitterte, als hätte er Ameisen im Bein. »Als ich jünger war, habe ich mich ehrlich gesagt nicht so sehr dafür interessiert, was sie abends gemacht hat. Umgekehrt war das schon anders, könnte man sagen.«
Diesmal war sein Lächeln echt. »Ich war wohl wie die meisten Jugendlichen. Habe versucht, die Grenzen auszutesten. Hatte sogar eine Freundin. Eigentlich habe ich mir das nie überlegt, aber vielleicht hatte meine Mutter die Gewohnheit, abends noch ein wenig spazieren zu gehen. Auch in Stavanger. Aber wenn wir hier sind, meine eigene Familie, meine ich, dann tut sie das natürlich nicht.«
»Sie wohnen in Os, nicht wahr?«
»Ja. Das ist nur eine gute halbe Stunde von hier. Außerhalb der Stoßzeiten. Dann kann es ewig dauern. Aber wir besuchen sie oft. Und sie uns. Da sie bei uns niemals diese Abendspaziergänge macht, oder wenn wir hier sind, da …«
»Verzeihen Sie die Unterbrechung, aber übernachten Sie dann? Wenn Sie hier sind?«
»Ab und zu. In der Regel nicht. Die Kinder schlafen natürlich oft hier. Sie verstehen sich sehr gut mit meinen Eltern. Am Heiligen Abend und anderen Feiertagen übernachten wir immer hier. Wir trinken ja gern ein wenig.«
»Ihre Eltern sind also keine Antialkoholiker?«
»Nein. Durchaus nicht.«
»Was wollen Sie mit ›durchaus nicht‹ sagen?«
»Was? Ich meine … Sie trinken gern ein Glas Rotwein zum Essen. Mein Vater trinkt gelegentlich gern einen Whisky. Ganz normale Menschen, mit anderen Worten.«
»Hat Ihre Mutter manchmal getrunken, ehe sie spazieren gegangen ist?«
Lukas Lysgaard seufzte demonstrativ. »Hören Sie mal«, sagte er wütend. »Ich sage doch, dass ich das alles nicht so genau weiß. Irgendwie bilde ich mir ein, dass meine Mutter abends gern einen Spaziergang gemacht hat. Zugleich weiß ich, dass sie Angst vor der Dunkelheit hatte. Richtige Angst. Alle haben sich wegen dieser Phobie über sie lustig gemacht, wo sich doch gerade sie in Gottes Gegenwart hätte sicher fühlen müssen. Und in Seiner Gegenwart ist man doch eigentlich immer …«
Dazu zog er eine kleine Grimasse, ließ sich im Sessel zurücksinken und stellte das leere Glas weg.
»Darf ich mich einmal umsehen?«, fragte Yngvar.
»Äh … ja. Nein, ich meine … Mein Vater ist bei meiner Familie, da ist es ein wenig unpassend, wenn Sie ohne seine Einwilligung in seinen Sachen herumschnüffeln.«
»Ich werde nicht schnüffeln«, sagte Yngvar lächelnd und hob beide Handflächen. »Das nun wirklich nicht. Ich will nur einen Blick auf alles werfen. Wie ich schon gesagt habe, ist es wichtig für mich, den bestmöglichen Eindruck vom Opfer zu bekommen. Deshalb bin ich hier. In Bergen, meine ich. Ich muss versuchen, mir ein klareres Bild von Ihrer Mutter zu machen. Ihr Haus zu sehen, das kann eine kleine Hilfe sein. Das dürfte doch kein Problem sein. Oder?«
Wieder zuckte Lukas mit den Schultern. Yngvar deutete das als Einverständnis und erhob sich.
Als er den Notizblock in die Tasche steckte, bat er Lukas, ihm den Weg zu zeigen. »Damit ich mich nicht blamiere«, sagte er lächelnd. »Wie beim letzten Mal.«
Das Haus am Nubbebakken war alt, aber gut erhalten. Die Treppe in den ersten Stock war überraschend schmal und schlicht im Vergleich zum übrigen Haus.
Lukas ging vor ihm her und warnte ihn vor einem Vorsprung in der Decke. »Das ist ihr Schlafzimmer«, sagte er und öffnete eine Tür.
Ein Doppelbett, bezogen.
Die Tagesdecke war aus verschiedenfarbigen Flicken zusammengesetzt und wirkte in dem riesigen und ziemlich leeren Zimmer beruhigend. Auf den Nachttischen türmten sich Bücherstapel und auf dem Boden neben dem zur Tür hin stehenden Bett lag eine zusammengefaltete Zeitung, Bergens Tidende , wenn Yngvar das richtig sehen konnte. Ein großes Gemälde hing gleich dem Bett gegenüber an der Wand, abstrakte Muster in Blau und Lila. Hinter der Tür, Yngvar sah ihn nur im Spiegel zwischen den beiden großen Fenstern, stand ein geräumiger Kleiderschrank.
»Danke«, sagte Yngvar, nickte und trat zurück.
Im ersten Stock befanden sich ein frisch renoviertes Badezimmer, zwei ziemlich anonyme Schlafzimmer, von denen das eine Lukas’ altes Kinderzimmer war, und ein großes Arbeitszimmer, wo beide Ehepartner ihre eigenen Schreibtische hatten. Yngvar brannte darauf, sich die Papiere näher anzusehen. Lukas’ Entgegenkommen ging nun aber zu Ende, er nickte zur Treppe hinüber. Auf dem Weg dorthin kamen sie an einer schmalen Tür
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