Gotteszahl
Kragen auf, als er auf das Gartentor zuging, ohne sich noch einmal umzuschauen.
Das Einzige, woran er denken konnte, war, dass eins der Bilder auf dem Regalbrett in dem sogenannten Gästezimmer verschwunden war. Am ersten Weihnachtstag hatten dort vier Fo tos gestanden. Heute waren es nur noch drei. Eins von Lukas als Kind, auf Eriks Schoß. Eins von der ganzen Familie in einem Boot. Das dritte Foto zeigte einen sehr ernsten und sehr jungen Erik Lysgaard mit Abiturientenmütze. Die Quaste war auf der Schulter arrangiert. Die Mütze war korrekt schräg gerückt.
Als Yngvar das Tor öffnete und zum Kreischen der Angeln eine Grimasse schnitt, fragte er sich, ob es ein Fehler gewesen war, Lukas nicht zu fragen, was mit dem vierten Bild geschehen war.
Andererseits hätte er aller Wahrscheinlichkeit nach keine Antwort erhalten.
Jedenfalls keine glaubwürdige.
Dass überhaupt jemand eine solche Geschichte glauben konnte, war einfach nicht zu fassen.
Inger Johanne hatte den Laptop auf dem Schoß und surfte ziellos umher. Sie hatte bei der New York Times und der Washington Post vorbeigeschaut, aber es fiel ihr schwer, sich zu konzentrieren. Auf den Websites des National Enquirer wurde sie immerhin unterhalten.
Ragnhild schlief schon tief, und Isak brachte gerade Kristiane ins Bett. Ohne dass ihr das so richtig gefiel, ertappte Inger Johanne sich bei dem Wunsch, dass er bliebe. Um diesen Gedanken abzuschütteln, sah sie ihre Mails durch. Drei neue Mitteilungen. Zwei nervige Reklameangebote, eins für ein aus Krill und Bärenklauen entwickeltes Schlankheitsmittel. Außerdem ein Brief von einer Absenderin, die sie in ihrem Gedächtnis einen Moment lang suchen musste.
Karen Ann Winslow.
Inger Johanne erinnerte sich an Karen Ann Winslow. Sie und Karen hatten vor zwei Ehen und einer Ewigkeit in Boston zusammen studiert. Damals hatte Inger Johanne noch Psychologin werden wollen, und sie hatte nicht geahnt, dass sie bald darauf ihre Ausbildung vorübergehend aufgeben würde, um sich einem FBI-Kurs zu widmen, der sie dann fast das Leben gekostet hatte.
Sie öffnete die Mail, die von einer privaten Adresse stammte und nicht verriet, wo Karen arbeitete.
Dear Inger. Remember me? Long time no see. We had some great days back at school and I’ve been thinking of you now and then. How are you? Married? Kids? Can’t wait to hear.
I googled your name and found this address. Hope it’s correct.
I’m going to a wedding in Norway, 10th of January. A dear friend of mine is marrying a Norwegian cardiologist. The wedding is taking place in a small town called Lillesand, not far from Oslo. Are you still living there?
Inger Johanne dachte, dass Karens amerikanische Vorstellung von »not far« auf der kurvenreichen lebensgefährlichen E 18 an die Südküste eine brutale Bruchlandung machen würde.
I’ll have to go without my husband and three children (two daughters and a son, gorgeous kids!), due to other family activities. I’ll arrive in Oslo three days before the wedding and would be absolutely thrilled to meet you. Is it possible? We have SO much catching up to do. Please let me hear from you as soon as possible. I’ll be staying at the Grand Hotel, by the way, in the center of Oslo.
Lots of Love,
Karen
In Bezug auf das Hotel hat sie immerhin recht, dachte Inger Johanne, als sie die E-Mail schloss, sich zu Google weiterklickte und Karens vollständigen Namen ins Suchfenster eingab.
Zweihundertsechs Treffer.
Offenbar gab es zwei Amerikanerinnen dieses Namens, denn viele Artikel bezogen sich auf eine dreiundsiebzig Jahre alte Kinderbuchautorin. Wenn sie sich richtig erinnerte, hatte Karen ihr Jurastudium in dem Herbst aufnehmen wollen, in dem Inger Johanne selbst nach Quantico gegangen war. So wie sie sich an die junge Frau erinnerte, hatte die ihr Studium sicher mit Glanz beendet. Viele Treffer bezogen sich denn auch auf eine Anwältin, die in Alabama in einer Kanzlei namens American Poverty Law Center, APLC, arbeitete. Diese Karen Ann Winslow, die nach einem raschen Überblick über die Artikel in Inger Johannes Alter war, hatte unter anderem eine gegen den Staat Mississippi gerichtete Kampagne geleitet, bei der es darum ging, die großen Gefängnisse für minderjährige Verbrecher zu schließen. Denn noch die grundlegendsten Kinderrechte wurden dort mit Füßen getreten.
Als Inger Johanne die Website sah, wusste sie, dass sie die Seite schon besucht hatte. Die Kanzlei gehörte zu den wichtigsten in den USA, wenn es
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