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Gotteszahl

Gotteszahl

Titel: Gotteszahl Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Anne Holt
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vorbei, in deren Schloss ein schmiedeeiserner Schlüssel steckte, Yngvar tippte auf eine Dachbodentreppe.
    »Warum wohnen sie hier?«, fragte er auf dem Weg nach unten.
    »Was?«
    »Warum wohnen sie nicht im Bischofssitz? Soviel ich weiß, besitzt das Bistum Bjørgvin einen eigenen Bischofssitz in Landåslien.«
    »Das hier ist das Elternhaus meines Vaters. Sie wollten hier wohnen, als wir nach Bergen gezogen sind. Als meine Mutter Bischöfin wurde, hat mein Vater darauf bestanden, hier einzuziehen. Das war seine Bedingung für sein Einverständnis. Dass meine Mutter Bischöfin werden durfte, meine ich.«
    Sie hatten den langen Gang vor dem Wohnzimmer erreicht.
    »Aber gibt es denn keine Vorschriften?«, fragte Yngvar. »Soviel ich weiß, ist man verpflichtet  … «
    »Hören Sie«, fiel Lukas ihm ins Wort, presste den Daumen an das eine und den Zeigefinger an das andere Auge. »Es hat eine Menge Ärger gemacht, die Erlaubnis einzuholen, aber ich habe eigentlich keine Ahnung. Ich bin entsetzlich müde. Können Sie jemand anderen fragen? Bitte?«
    »In Ordnung«, sagte Yngvar schnell. »Ich lasse Sie in Ruhe. Ich muss nur noch einen kurzen Blick in das Zimmer dort werfen.«
    »Tun Sie sich keinen Zwang an«, murmelte Lukas und zeigte mit ausgestreckter Hand auf die Tür.
    Erst als er das Zimmer betreten hatte, wunderte sich Yngvar, dass Lukas sich ihm nicht in den Weg gestellt hatte. Im Gegenteil, der Sohn der Bischöfin war ins Wohnzimmer zurückgegangen, und Yngvar war allein. Er schaute sich eilig um.
    Die Vorhänge waren geschlossen, es roch nicht mehr süßlich nach Schlaf. Das Zimmer war kühler als in seiner Erinnerung, und die Kleider, die über dem Stuhl gelegen hatten, waren verschwunden.
    Ansonsten wirkte alles wie beim ersten Mal.
    Er bückte sich, um die Titel der Buchrücken in dem kleinen Stapel auf dem Nachttisch zu lesen. Eine dicke Biographie über den Kriegshelden Jens Christian Hauge, ein Kriminalroman von Unni Lindell und ein abgegriffenes Exemplar von Segen der Erde.
    Yngvar stand ganz still da. Seine Sinne waren geschärft. In diesem Zimmer hatte sie ihre Nächte verbracht, da war er sich sicher. Vorsichtig öffnete er die Tür des Kleiderschranks. Röcke, Kleider, gebügelte Hemden und Blusen hingen in der einen Hälfte, die andere war in Fächer unterteilt. Unterwäschefach, Strumpffach. Ein Fach für Hosen und eins für Gürtel und Abendtaschen. Ein Fach ganz unten für alles, was kein eigenes Fach brauchte.
    Man bewahrt die Alltagskleidung nicht in einem Gästezimmer auf, dachte Yngvar und schloss den Schrank lautlos.
    »Sind Sie bald fertig?«, hörte er Lukas rufen.
    »Ja, sicher«, sagte Yngvar und ließ seinen Blick ein letztes Mal durch das Zimmer wandern, ehe er wieder auf den Gang trat. »Danke.«
    An der Haustür drehte er sich um und streckte zum Abschied die Hand aus.
    »Ich wüsste ja gern, wann er vorübergeht«, sagte Lukas, ohne die Hand zu nehmen. »Dieser Schmerz.«
    »Der geht niemals vorüber«, sagte Yngvar und ließ die Hand sinken. »Eigentlich nicht.«
    Lukas Lysgaard schluchzte auf.
    »Ich habe meine erste Frau und meine erwachsene Tochter verloren«, sagte Yngvar leise. »Vor über zehn Jahren. Durch ein banales Unglück bei uns zu Hause. Ich hatte nicht gewusst, dass etwas so wehtun könnte.«
    Lukas’ Gesicht veränderte sich. Der abweisende Ausdruck verschwand, und er legte die Hände in einer Geste der Verzweiflung in seinen Nacken. »Verzeihung«, flüsterte er. »Verzeihung. Ein Kind zu verlieren … Es tut mir leid. Hier rede und rede ich und …«
    »Das braucht Ihnen nicht leidzutun«, sagte Yngvar. »Trauer ist nicht relativ. Ihre Trauer ist in sich groß genug. Irgendwann werden Sie lernen, damit zu leben. Es wird lichter, Lukas. Das Leben hat eine gesegnete Tendenz, sich selbst zu heilen.«
    »Sie war doch nur meine Mutter. Sie dagegen …«
    »Ich wache noch immer mitten in der Nacht auf und glaube, dass Elisabeth und Trine da sind. Eine Sekunde vergeht, zwei vielleicht, dann begreife ich, wo in der Zeit ich mich befinde. Und die Trauer, die ich in diesem Moment verspüre, eben in diesem Moment, ist dieselbe wie am Tag ihres Todes. Aber es geht viel schneller vorbei, natürlich. Nach einer halben Stunde kann ich meinen sorglosesten Schlaf schlafen.«
    Er deutete ein Lächeln an. »Aber jetzt muss ich gehen.«
    Die feuchte Kälte schlug ihm entgegen, als er auf die niedrige Steintreppe trat. Der Regen peitschte von der Seite und Yngvar stellte seinen

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