Gotteszahl
Überdosis setzte. Ebenso sicher verwarf sie den Gedanken wieder. Vermutlich würde sie nicht sterben. Und wenn sie dann wieder zu sich käme, würde sie nichts mehr haben.
Die Vorstellung, keinen Stoff mehr zu haben, war schlimmer als die, weiterleben zu müssen.
Sie nahm die Kulturtasche und schleppte sich die wenigen Schritte zu einem grünen Sofa an der anderen Wand. Darauf lagen seit gestern lauter leere Bierflaschen. Jemand hatte während der Nacht auf das eine Kissen eine Zigarette fallen lassen, und für einen Moment starrte sie den großen runden Brandflecken mit dem schwarzen Loch in der Mitte an.
Über dem Sofa hing Runars Konfirmationsbild.
Sie riss es an sich und ließ sich zwischen die Bierflaschen fallen.
Runar blickte sie aus dem großen Bild auf Büttenpapier im Goldrahmen an. Er hatte eine Vokuhilafrisur und dauergewellte Locken. Sein Anzug war pastellblau. Der schmale Schlips rosa. Er hatte so gut ausgesehen, das wusste sie noch. Er war ihr großer Bruder, und an jenem Tag war er der eleganteste Junge in der Kirche gewesen. Danach, als die Zeremonie endlich zu Ende war und ihre Mutter nach Hause wollte, ehe die anderen Eltern Fragen nach dem Fest stellen könnten, hatte er sie hochgehoben und auf einem Arm zum Bus getragen, obwohl sie schon neun Jahre alt und viel zu dick gewesen war.
Sie hatten Hähnchenflügel gegessen.
Mama, Runar und sie.
Runar hatte kein einziges Geschenk bekommen, da alles Geld für den neuen Anzug, den Friseur und den Fotografen ausgegeben worden war. Aber sie hatten Hähnchenflügel und Pommes gegessen, und Runar hatte Bier dazu trinken dürfen. Er hatte gelächelt. Sie hatte gelacht. Mama hatte sauber und schön gerochen.
Träge zog sie Löffel und Bunsenbrenner hervor, die sie von Runar bekommen hatte. Bald würde sie sich besser fühlen. Ziemlich bald. Wenn ihre Hände nur besser gehorchen wollten.
Ihr träges Gehirn versuchte auszurechnen, wie lange Runar nun schon tot war. 19+19? Falsch. Vom 19. bis zum 19. waren es 31 Tage. Oder 30. Sie wusste nicht mehr, wie viele Tage der November hatte. Und nicht, wie viele Tage seither vergangen waren. Sie konnte sich nicht einmal daran erinnern, welcher Tag heute war.
Das Einzige, was sie sicher wusste, war, dass Runar am 19. November gestorben war.
Sie war zu Hause gewesen. Er hatte kommen wollen. Runar hatte es versprochen. Er wollte nur noch Geld besorgen. Heroin besorgen, alles besorgen, was sie brauchte. Runar würde seiner kleinen Schwester helfen, wie er das immer tat.
Es dauerte. Es dauerte so verdammt lange. Dann kamen die Bullen.
Sie klingelten, wahnsinnig früh am Morgen. Als sie aufmachte, wurde ihr erzählt, Runar sei in dieser Nacht im Sofienbergpark überfallen worden. Er hatte schlimme Kopfverletzungen, als er gefunden wurde, und war vermutlich bereits tot. Jemand hatte einen Krankenwagen geholt, und als sie im Krankenhaus eingetroffen waren, war er jedenfalls tot.
Die Polizistin war ernst und wollte sie vielleicht trösten.
Sie wusste nur noch, dass man ihr einen Zettel in die Hand gedrückt hatte. Telefonnummer und Adresse eines Bestattungsunternehmens. Fünf Tage darauf war sie sehr spät erwacht, und ihr war sofort klar, dass sie die Beisetzung verpassen würde.
Seither hatten die Bullen keinen Finger gerührt.
Niemand war festgenommen worden.
Sie hatte nichts gehört.
Als sie die Spritze in eine Ader in der Kniekehle geleert hatte, breitete die gute Wärme sich so schnell aus, dass sie aufkeuchte. Langsam ließ sie sich auf dem grünen Sofa zurücksinken. Ihre knochendürren Arme legten sich um Runars Bild. Das Letzte, was sie noch denken konnte, ehe alles zu warmen Wolken aus nichts wurde, war, dass ihr großer Bruder ihr die letzten drei Hähnchenflügel überlassen hatte, am Tag seiner Konfirmation, und dass Mama ihm zum allerersten Mal Bier gegeben hatte.
Die Polizei interessierte sich nicht für solche wie Runar.
Solche wie sie und Runar.
»Interessiert Sie das überhaupt?«
Synnøve Hessel war zum ersten Mal seit fast einer Stunde dabei, die Beherrschung zu verlieren. Sie beugte sich zu dem Polizisten vor, wie vor Angst, dass sie sonst zuschlagen würde.
»Natürlich«, sagte er, ohne sie anzusehen. »Aber Sie verstehen doch sicher, dass wir Fragen stellen müssen. Wenn Sie wüssten, wie viele Menschen einfach aus ihrem normalen Leben aussteigen, ohne …«
»Marianne ist nicht ausgestiegen. Wann verstehen Sie endlich, dass sie nicht den geringsten Grund hatte, auszusteigen?
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