Gotteszahl
eine Mappe, die er dann links auf den großen Tisch zwischen ihnen legte. »Dann wäre es besser, du erzählst mir alles«, sagte er. »Von Anfang an.«
Anfangs hatte er seinen Vater verstanden.
In der Nacht zum ersten Weihnachtstag hatte die Polizei an der Tür des Hauses in Os geklingelt, als sie gerade zu Bett gehen wollten. Da hatte Lukas Lysgaard in erster Linie an seinen Vater gedacht. Die Mutter sei tot, sagte die Polizei und wirkte ehrlich verzweifelt darüber, diese traurige Nachricht überbringen zu müssen. Sie hatten zwar den Propst von Fana bei sich, den vertrautesten Kollegen der Mutter, aber der arme Mann war dermaßen außer sich, dass er im Wagen blieb, während zwei Polizisten die schwere Last auf sich nahmen, Lukas Lysgaard mitzuteilen, dass seine Mutter vor drei Stunden ermordet worden war.
Lukas hatte sofort an seinen Vater gedacht.
Natürlich auch an die Mutter, er liebte seine Mutter. Eine dumpfe Trauer raubte ihm alle Kraft, als ihm wirklich aufgegangen war, was die Polizei gesagt hatte. Aber Sorgen machte er sich um seinen Vater.
Erik Lysgaard war ein sanfter Mann.
Manche hielten ihn für hilflos, andere wussten den gelassenen, zurückhaltenden Mann zu schätzen. Er machte außerhalb der Familie nie viel Wesens um sich. Und auch dort nur selten. Er sagte wenig, hörte umso genauer zu. Erik Lysgaard war ein Mann, der bei näherer Bekanntschaft gewann. Er hatte natürlich Freunde, einige aus seiner Kindheit und zwei Kollegen aus der Schule, wo er gearbeitet hatte, bis sein Rücken nicht mehr mitmachte und er in den vorzeitigen Ruhestand treten musste.
Aber vor allem war er der Ehemann seiner Frau.
Ganz allein ist er niemand, dieser Gedanke kam Lukas, als er vom Tod seiner Mutter erfuhr. Vater ist niemand ohne Mutter.
Und anfangs hatte er seinen Vater verstanden.
In der Nacht, der heiligen, grausamen Nacht, die Lukas in seinem Leben nie vergessen würde, hatte die Polizei ihn zum Nubbebakken gefahren. Der ältere der beiden Polizisten hatte gefragt, ob sie bis zum Morgen bleiben sollten.
Das hatten weder er noch sein Vater gewollt.
Der Vater war zu etwas geschrumpft, was Lukas nur mit Mühe erkannt hatte. Er war so schmal und gebeugt und warf fast keinen Schatten, als er seinem Sohn die Tür öffnete, und ohne ein Wort kehrte er ihm den Rücken zu und ging zurück ins Wohnzimmer.
Er weinte so beängstigend. Zuerst fast lautlos, dann heulte er endlos und gedehnt, ohne zu schluchzen, ein Tierschmerz, der Lukas Furcht einjagte. Er fühlte sich hilfloser, als er erwartet hatte. Und sein Vater wollte keinen physischen Kontakt. Er wollte auch nicht reden. Als langsam der Tag heraufzog, ein regenschwerer, kohlschwarzer Weihnachtsmorgen, war Erik endlich zu dem Versuch bereit gewesen, schlafen zu gehen. Aber auch jetzt hatte er seinem Sohn untersagt, ihm zu helfen. Obwohl Eva Karin ihm doch immer abends die Socken ausgezogen und ihm ins Bett geholfen hatte, um dann den wehen Rücken mit einer selbst gemachten Salbe einzureiben, die ihm ein treues Gemeindemitglied seit den Jahren in Stavanger noch immer zusandte. Lukas hatte ihn trotzdem verstanden.
Aber das nahm jetzt ein Ende.
Es war der fünfte Tag seit dem Mord, und nichts hatte sich verändert. Der Vater hatte nichts gegessen, rein gar nichts. Er trank bereitwillig Wasser, viel Wasser, und nachmittags zwei Tassen Kaffee mit Zucker und Milch. Auch als Lukas ihn zu seiner eigenen Familie gefahren hatte, in der Hoffnung, die Enkelkinder würden irgendeine Art von Lebensfunken in ihm wecken, hatte Erik nichts essen wollen. Der Besuch war ein Fehlschlag gewesen. Die Kinder hatten Angst bekommen, als sie den Opa auf so seltsame Art weinen sahen, und der Achtjährige hatte mehr als genug mit der Gewissheit zu kämpfen, dass Oma nie, nie, nie wieder zurückkommen würde.
»So geht das nicht. Vater.«
Lukas zog einen Fußschemel neben den Ohrensessel des Vaters und setzte sich darauf. »Wir müssen an die Beisetzung denken. Du musst essen. Du bist nur noch ein Schatten deiner selbst, Vater, und so kann das nicht weitergehen.«
»Die Beisetzung ist erst möglich, wenn die Polizei sie gestattet«, sagte der Vater.
»Schon. Aber wir müssen planen.«
»Das kannst du tun.«
»Das wäre nicht richtig, Vater. Wir müssen es zusammen machen.«
Schweigen.
Die alte Standuhr war stehen geblieben. Erik Lysgaard hatte die bleischweren Messinggewichte nicht mehr jeden Abend vor dem Schlafengehen aufgezogen. Er hatte nicht mehr das Bedürfnis, die
Weitere Kostenlose Bücher