Gotteszahl
kleine Körner in die Luft.
»Sind ihre Nachrichten immer so … kurz?«
Zum ersten Mal blieb Synnøve stumm. Sie hatte keine Ahnung, was sie antworten sollte. Die Frage war durchaus angebracht, das wusste sie, denn gerade diese knappen, unpersönlichen und untypischen Mitteilungen hatten sie beunruhigt. Über die erste, die vom Montag, hatte sie nicht weiter nachgedacht. Marianne konnte ja beschäftigt gewesen sein. Die Tante war vielleicht anstrengend. Es konnte tausend gute Gründe dafür geben, dass eine SMS eher karg ausfiel. Am Heiligen Abend war nur ein kurzes »Fröhliche Weihnachten« gekommen, was Synnøve ziemlich verletzt hatte. Die letzte Mitteilung darüber, dass bei Marianne alles klar sei, nicht mehr und nicht weniger, hatte ihr zwei schlaflose Nächte beschert.
»Nein«, sagte sie, als das Schweigen peinlich wurde. »Deshalb glaube ich ja nicht, dass sie das geschrieben hat. Sie würde sich bei einem Wort wie spannend niemals verschreiben.«
Der Polizist riss so dramatisch die Augen auf, dass er einem Clown bei einem misslungenen Kinderfest ähnelte. Haarbüschel ragten hinter seinen Ohren auf, der Mund war rot und feucht, die Nase sah aus wie eine einigermaßen runde Kartoffel. »Dann haben wir also eine Theoriiiie«, sagte er und zog das I, so lang er konnte. »Jemand hat Mariannes Telefon gestohlen und an ihrer Stelle Meldungen versandt.«
»Das habe ich nicht gesagt«, protestierte Synnøve, obwohl sie genau das gesagt hatte. »Aber verstehen Sie doch … Wenn Marianne einem Verbrechen zum Opfer gefallen ist und wenn jemand …«
Verbrechen.
Das Wort durchbohrte sie. Es tat wirklich weh. Sie hatte bisher nicht einmal gewagt, diesen Gedanken zu denken. Nicht mit dem richtigen Begriff.
Verbrechen.
»… und jemand wollte die Entdeckung erschweren, dann …«
»Die Entdeckung?«
»Ja! Dass sie verschwunden ist, meine ich. Oder dass sie …«
Zum zweiten Mal in weniger als vierundzwanzig Stunden brach sie vor einem fremden Menschen in Tränen aus.
Es wurde an die Tür geklopft.
»Kvam. Du wirst in der Zentrale gesucht.«
Ein uniformierter Mann betrat lächelnd das Zimmer. Er legte dem übel riechenden Kollegen die Hand auf die Schulter und zeigte auf die Tür. »Es scheint dringend zu sein.«
»Ich bin mitten in …«
»Das kann ich übernehmen.«
Kommissar Kvam erhob sich mit verärgerter Miene und wollte seine Unterlagen zusammenraffen.
»Lass alles liegen. Ich mach das hier fertig. Jemand ist verschwunden, war das nicht so?«
Kvam zuckte mit den Schultern, deutete ein Nicken an und verschwand. Die Tür knallte hinter ihm ins Schloss.
»Synnøve Hessel«, sagte der neue Polizist. »Lange nicht mehr gesehen.«
Sie stand auf und nahm die ausgestreckte Hand. »Kjetil? Kjetil … Berggren?«
» The one and only . Ich hab dich draußen gesehen, und ich hab mir …«
Er drehte die Handflächen nach oben und schwenkte die Hände hin und her.
»… doch Sorgen gemacht, als ich gesehen habe, dass Ola Kvam die Anzeige aufnehmen sollte. Er ist nicht … Eigentlich ist er schon in Rente, aber jetzt, um Weihnachten, holen wir Vertretungskräfte, um alles zu schaffen … Du weißt schon. Wir haben alle unsere Macken. Ich bin gekommen, sowie ich das erledigt hatte, womit ich gerade beschäftigt war.«
Kjetil Berggren war auf der Schule eine Klasse unter ihr gewesen. Sie hätte sich kaum an ihn erinnert, wenn er nicht der Beste der Schule in Leichtathletik gewesen wäre. Er hatte schon mit sechzehn einen Rekord über 3000 Meter aufgestellt, und ehe er nach dem Abitur auf die Polizeihochschule übergewechselt war, hatte er der Juniorennationalmannschaft angehört.
Er sah noch immer aus, als könnte er wirklich jedem davonlaufen.
»Ich hab dich nicht aus den Augen gelassen, weißt du.« Er lächelte strahlend, verschränkte die Hände im Nacken und ließ sich so weit zurücksinken, dass der Stuhl kippelte.
»Schöne Sendungen. Vor allem die aus …«
»Du musst mir helfen, Kjetil!«
Seine Pupillen wurden kleiner, glaubte sie. Vielleicht, weil ihm plötzlich Licht in die Augen fiel, als er die vorderen Stuhlbeine auf den Boden knallen ließ und sich zu ihr vorbeugte. »Deshalb bin ich da. Wir. Die Polizei. To protect and to serve .«
Wieder versuchte er ein Lächeln, und auch dieses Mal wurde es nicht erwidert.
»Ich bin ganz, ganz sicher, dass meiner Liebsten etwas Entsetzliches passiert ist.«
Kjetil Berggren schob langsam die Papiere vor sich zusammen und steckte sie in
Weitere Kostenlose Bücher