Gotteszahl
schlaflosen Nächte oder die unerklärliche Unruhe, die sie die ganze Woche lang gequält hatte. Es konnte auch sein, dass sie wusste, im tiefsten Herzen, dass sie allen Grund zur Verzweiflung hatte. Jedenfalls begann die Frau im roten Anorak, zum allerersten Mal in ihrem Erwachsenenleben, in der Öffentlichkeit zu weinen.
Still, ganz lautlos liefen die Tränen über ihre Wangen, über die tiefen Lachgrübchen, weiter über das spitze Kinn. Langsam, in großen Tropfen, fielen sie auf das helle Holz des Schalters.
»Weinen Sie?« Die SAS-Frau runzelte mitfühlend die Stirn.
Die Frau auf der anderen Seite gab keine Antwort.
»Hören Sie«, sagte die SAS-Frau und senkte die Stimme. »Es ist spät. Sie sind sicher müde. Hier ist sonst niemand und …«
Sie schaute sich kurz um. »Welcher Flug, haben Sie gesagt?«
Die Frau im Anorak legte ein zusammengefaltetes Papier auf den Tresen. »Eine Kopie des Reiseplans«, flüsterte sie und fuhr sich mit beiden Handrücken übers Gesicht.
Es war nicht möglich, von ihrem Standpunkt aus den Bildschirm zu sehen. Stattdessen richtete sie ihren Blick auf die Augen der älteren Frau. Die jagten zwischen Tastatur und Schirm hin und her.
Plötzlich vertiefte sich ihr Stirnrunzeln. »Sie hatte gebucht«, sagte sie endlich. »Aber sie war nicht in dem Flugzeug. Sie … Marianne Kleive hatte gebucht, aber sie hat nicht eingecheckt.«
»In Kopenhagen?«
»Nein. In Sydney.«
Es war unbegreiflich. Es war nicht möglich. Marianne hätte auf jeden Fall Bescheid gesagt, wenn etwas sie an der Heimreise gehindert hätte. Vor mehr als dreißig Stunden hatte das Flugzeug vom australischen Boden abgehoben, und in dieser Zeit hätte Marianne ein Telefon gefunden. Einen Computer mit Internetanschluss. Irgendetwas, und das hier war einfach unbegreiflich.
»Einen Moment«, sagte die Frau und griff noch einmal nach der Kopie der Reiseunterlagen.
Die Frau im Anorak war dreiundvierzig Jahre alt und hieß Synnøve. Ihre blonden Haare waren zu einem Zopf geflochten, sie trug keinerlei Make-up und hätte durchaus als zehn Jahre jünger durchgehen können. Sie war nur hundertfünfzig Meter vom Gipfel des Mount Everest entfernt gewesen, als sie den Rückzug antreten musste, und sie war um die ganze Welt gesegelt. Sie war vor den Kanarischen Inseln auf Piraten gestoßen und wäre bei Stord um ein Haar beim Tauchen ertrunken. Synnøve Hessel war eine Frau, die rasch und konstruktiv denken konnte und die mehrmals durch ihre Reaktionsfähigkeit ihr eigenes und das Leben anderer gerettet hatte.
Jetzt stand alles still. Ganz, ganz still.
»Tut mir leid«, flüsterte die Frau hinter dem Tresen. »Marianne Kleive hatte für den vergangenen Sonntag einen Flug nach Sydney gebucht. Aber ich sehe hier, dass sie …«
Als sie dem Blick der anderen begegnete, zuckte sie zusammen. »Es tut mir leid«, sagte sie dennoch. »Sie ist nicht geflogen. Marianne Kleive hat ihren Flug verfallen lassen. Sie ist jedenfalls nicht nach Sydney geflogen. Es kann ja sein, dass sie mit einem anderen Ticket geflogen ist, meine ich.«
Ohne für die freundliche und absolut regelwidrige Hilfe zu danken, ohne überhaupt ein Wort zu sagen, sogar ohne die Kopie des Reiseplans mitzunehmen, der nicht eingehalten worden war, wandte Synnøve Hessel sich vom Schalter der SAS ab und lief durch die menschenleere Abflughalle.
Sie hatte nur keine Ahnung, wohin.
Der Sohn des Glücks
Als sie mit der Hand auf der Klinke dastand, wusste Trude Hansen nicht mehr, wohin sie gehen wollte. Sie schwankte und ihr fiel ein, dass sie genug hatte, um bis zum nächsten Morgen durchzuhalten. Ihre Erleichterung war so groß, dass die Knie unter ihr nachgaben, und sie musste sich an die Wand lehnen, als sie die Türklinke losgelassen hatte.
Es roch hier drinnen immer übler.
Sie musste etwas dagegen machen.
Bald, dachte sie und taumelte in das kleine Wohnzimmer. Im Alkoven lag auf einem ungemachten Bett ein Schlafsack. Unten im Schlafsack lag eine rote Kulturtasche mit einem Bild von Hello Kitty. Jemand hatte der Katze Hauzähne und eine Piraten-Augenklappe verpasst. Mit Händen, die ihr nicht richtig gehorchten, konnte sie endlich die Tasche hervorziehen und den Reißverschluss öffnen. Alles war vorhanden.
Das Besteck. Drei Dosen Heroin.
Wie schon zahllose Male zuvor spielte sie mit dem Gedanken, sich alles auf einmal zu drücken. Träge und routiniert berechnete sie die Möglichkeit, dass alles vorüber wäre, wenn sie sich ganz bewusst eine
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