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Gotteszahl

Gotteszahl

Titel: Gotteszahl Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Anne Holt
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um sich zurücksinken zu lassen. »Habe ich irgendwo einen Bruder oder eine Schwester?«
    Die Miene seines Vaters machte ihm Angst. Die Augen wurden dunkler, der Mund verspannte sich, die Augenbrauen zogen sich zusammen. Die Hände, die bisher schlaff auf seinen Knien gelegen hatten, ballten sich zu Fäusten, und die Fingerknöchel wurden weiß. »Das hätte ich nicht von dir erwartet«, sagte er mit fremder Stimme.
    »Aber ich … Hatten du und Mutter, oder nur Mutter … Ich meine, ihr wart doch immer zusammen, und das mit dem Wald und mit Jesus …«
    »Halt den Mund!« Der Vater sprang auf. Diesmal hob er die Hand nicht zum Schlag. Er stand nur da, mit blitzenden Augen und zitternder Unterlippe. »Frag dich selbst«, sagte er eiskalt. »Frag dich selbst, ob Eva Karin, deine Mutter, meine Frau, ein Kind hat, von dem sie nichts wissen will.«
    »Ich frage dich, Vater. Und ich sage nicht, dass sie nichts wissen will von …«
    »Ich werde diese Art von Fragen niemals beantworten, niemals. Frag dich selbst, Lukas. Frag dich selbst!«
    Der Vater verließ das Wohnzimmer ohne Gutenachtgruß.
    Hättest du nicht Ja sagen und mein Leben so unendlich viel einfacher machen können?
    Es war unmöglich, jetzt ins Bett zu gehen. Lukas wusste, dass er nicht schlafen würde. Er hatte eine Frage gestellt und eine Antwort erwartet. Eine Antwort erhofft. Dass alles sich klären würde, wenn sein Vater nur bestätigte, dass es dort draußen ein Kind gäbe. Ein älteres Kind, älter als Lukas, eine Erklärung für alles.
    Aber der Vater hatte sich geweigert.
    Und zwar, weil du nicht lügen willst, Papa?
    Lukas legte sich aufs Sofa, ohne die Pantoffeln abzustreifen. Er zog eine Wolldecke bis ans Kinn, wie seine Mutter ihn früher zugedeckt hatte. So blieb er schlaflos bis zum Morgen liegen, bis zu einem pechschwarzen Beginn eines neuen Jahres.

Teil II Januar 2009

Verfolgt
    »Ich weiß nicht, ob es richtig war, dir das zu erzählen. Streng genommen gibt es keine Hinweise auf einen Einbruch, und der Rektor will die Polizei nicht einschalten. Es ist nur so, dass ich …«
    »Kannst du alles noch einmal erzählen?«, fragte Inger Johanne und räusperte sich.
    Sie versuchte, eine Haltung zu finden, die das Stillsitzen leichter machte.
    »Ja, also …«
    Die stellvertretende Schulleiterin Live Smith fuhr sich mit den Fingern durch die dichten grauen Haare. Sie hatte schon skeptisch gewirkt, als sie Inger Johanne auf dem Gang abgefangen und in ihr Büro gebeten hatte. Jetzt schien sie alles zu bereuen und abwinken zu wollen. »Da wir doch schließlich eine Spezialschule sind«, sagte sie zögernd, »haben wir ziemlich umfassende Unterlagen über jedes Kind. Und du weißt ja, dass unsere Schülerinnen und Schüler sehr unterschiedliche Behinderungen aufweisen, und um den Lehrstoff …«
    »Ich weiß, wofür diese Schule steht und was sie zu bieten hat«, sagte Inger Johanne. »Meine Tochter ist ja schließlich hier.«
    Ihre Stimme hörte sich fremd und hart an. Wieder hustete sie und musste zum Glas greifen, obwohl ihre Hände zitterten.
    »Ist alles in Ordnung?«
    Inger Johanne stellte ihr Glas weg. »Bin nur ein bisschen trocken im Hals. Brüte sicher eine Erkältung aus. Also, erzähl.«
    Sie zwang sich zu einem Lächeln und machte eine rotierende Handbewegung.
    Live Smith zog ihre Jacke gerade, schob sich die Haare hinter die Ohren und sagte pikiert: »Du hast mich doch immerhin gebeten, alles von Anfang an zu erzählen.«
    »Ja. Tut mir leid. Wenn du vielleicht …«
    »Also gut. Die Kurzversion ist so: Am letzten Freitag, also gleich vor dem Wochenende, bin ich hergekommen, um den Schulanfang vorzubereiten, und ich hatte das Gefühl, dass jemand hier gewesen war.«
    Ihre Hände wiesen auf den Raum. Es war ein großes Büro mit einem Aktenschrank an der einen Längswand, wo eine Tür zu einem abschließbaren kleineren Zimmer führte. Ansonsten waren die Wände bedeckt von bunten Kinderzeichnungen in einfachen Rahmen. Die Vorhänge waren knallrot mit gelben Punkten, und sie bewegten sich leicht im Lufthauch der unter den Fenstern angebrachten Heizkörper.
    »Ich hatte einfach ein fremdes Gefühl. Es war ein anderer … ein anderer Geruch, vielleicht. Nein, das nicht. Eher eine andere … Atmosphäre, irgendwie.« Jetzt wirkte sie verlegen und lächelte, ehe sie rasch hinzufügte: »Du weißt schon.«
    Inger Johanne wusste.
    »Nicht dass ich an übernatürliche Dinge glaube«, sagte Live Smith und lächelte noch einmal

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