Gotteszahl
abwehrend. »Aber du kennst sicher das Gefühl, dass …«
»Das ist nicht übernatürlich«, fiel Inger Johanne ihr ins Wort. »Im Gegenteil. Es ist eine unserer sensibelsten Fähigkeiten. Das Unterbewusstsein registriert Dinge, die wir nicht ganz an die Oberfläche kommen lassen können. Ein Gegenstand kann bewegt worden sein. Es kann, wie du selbst sagst, ein fast unmerklicher Geruch zurückgeblieben sein. Je mehr wir erlebt haben, desto mehr können unsere Erfahrungen uns erzählen. Einige verstehen rascher als andere, was sie empfinden.«
Endlich konnte sie ein wenig Wasser trinken. »Ab und zu erweisen sie sich als hellsichtig«, fügte sie hinzu.
Bei diesem Sarkasmus beruhigte ihr Puls sich ein wenig.
»Und dann haben wir diesen Ordner«, sagte Live Smith. Wieder lag hinter jedem Satz dieses flüchtige Lächeln, als versuchte sie, sich kleiner zu machen. Weniger wichtig. Inger Johanne hätte sich normalerweise über diese feminine Haltung maßlos geärgert.
Jetzt machte es ihr Mühe genug, ihre Stimme fest klingen zu lassen. »Kristianes Ordner«, sagte sie und nickte.
»Ja. Und der ist …« Live Smith hielt den Atem an und schien nach einem möglichst harmlosen Wort zu suchen. Verschwunden. Weggekommen. Gestohlen.
»… vielleicht nur verlegt worden«, sagte sie endlich.
Ihre Augen sagten etwas ganz anderes.
»Wie hast du das entdeckt?«
»Ich wollte aus derselben Schublade einen anderen Ordner nehmen, und dabei habe ich gemerkt, dass sie nicht abgeschlossen war. Die Schublade, meine ich. Nicht aufgebrochen oder so. Nur nicht abgeschlossen. Ich habe mich über mich geärgert, denn soweit ich mich erinnern konnte, hatte ich vor den Weihnachtsferien alles abgeschlossen. Wir haben sehr strenge Regeln, was die Aufbewahrung dieser Ordner angeht. Es handelt sich doch um teilweise sensible medizinische Daten, und ich …«
Dem Lächeln folgte diesmal ein kurzes Schulterzucken.
Inger Johanne sagte nichts.
»Da es keine Spuren von Einbruch gab, weder an der Tür noch am Schrank oder an den Schubladen, habe ich alles für mein Versehen gehalten. Aber sicherheitshalber wollte ich nachsehen, ob alles an Ort und Stelle lag. Und das war ja der Fall. Mit einer Ausnahme.«
»Kristianes Ordner.«
»Genau.«
Inger Johanne verspürte einen fast unwiderstehlichen Drang, der anderen das Lächeln aus dem Gesicht zu kratzen. »Warum wollt ihr die Polizei nicht einschalten?«, fragte sie stattdessen.
»Der Rektor meint, dass es kein normaler Einbruch gewesen sein kann. Nichts ist zerstört worden. An den Türen gibt es keine Spuren, nichts wurde gestohlen. Nicht dass es hier besondere Wertsachen gäbe, außer dem Computer, vielleicht.«
Jetzt lachte sie, ein angestrengtes kleines Lachen.
Was ist mit meinem Kind, dachte Inger Johanne. Kristianes Leben, alle Untersuchungen, Diagnosen und Nicht-Diagnosen, Medikamentenversorgung und Fehler, Entwicklung und Verwicklung; das ganze Dasein ihrer Tochter lag in einem Ordner, der in Jahren des Vertrauens gefüllt worden und der jetzt verschwunden war.
»Die Ordner der Kinder sind vielleicht eine Spur wertvoller als dein Rechner«, sagte Inger Johanne.
»Natürlich«, sagte Live Smith. »Deshalb habe ich dich ja auch verständigt. Aber vielleicht hat der Rektor recht. Das hier war ein Versehen meinerseits. Der Ordner wird sich irgendwann wieder anfinden. Ich dachte nur, weil ich dieses Gefühl habe und weil du doch selbst bei der Polizei arbeitest …«
»Das tu ich nun wirklich nicht. Ich arbeite an der Universität.«
»Ja, richtig. Dein Mann ist bei der Polizei. Kristianes Papa.«
Inger Johanne brachte es nicht über sich, Live Smith noch einmal zu korrigieren. Sie stand auf und warf einen Blick hinüber zum Archivraum. »Es war ganz richtig, dass du mich verständigt hast«, sagte sie. »Darf ich wohl einen Blick in den Schrank werfen?«
»Den Schubladenschrank?«
»Wenn du ihn so nennst.«
»Eigentlich sind nur der Rektor und ich befugt … Wir haben wie gesagt sehr strenge Vorschriften für …«
»Ich will ja nur hineinschauen. Ich werde keinen einzigen Ordner anfassen.«
Die stellvertretende Schulleiterin erhob sich. Wortlos ging sie zur Tür, suchte aus dem dicken Bund den richtigen Schlüssel heraus und öffnete. Ihre Hand machte sich auf der rechten Innenseite der Tür zu schaffen. Eine Leuchtröhre knisterte und blinkte, bis sie endlich grelles Licht verbreitete. » Der da « , sagte sie und zeigte auf einen Metallschrank.
Zwei der Wände waren
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