Gotteszahl
Schnee, der jetzt über ganz Ostnorwegen herunterrieselte. Auf den Loipen oberhalb der grünen Lungen, die die Stadt sich noch immer leistete, wimmelte es seit einigen Tagen von Kindern und jungen Eltern, die die letzten Ferientage nutzten. Nicht nur die Stadt sah in ihrem weißen Gewand heller aus, auch die Einwohner schienen zu strahlen und aufzuatmen.
Inger Johanne band sich im Schneegestöber den Schal fester um und versuchte, vernünftig zu denken.
Sicher war der Ordner einfach verlegt worden.
Sie konnte das nur nicht glauben.
»Scheiße«, murmelte sie, »Scheiße, Scheiße, Scheiße.«
Sie konnte nicht verstehen, warum sie dermaßen außer sich war. Natürlich machte sie sich dauernd Sorgen wegen Kristiane, aber das hier ging doch wirklich zu weit.
Verlegt, hatte Live Smith gesagt.
Inger Johanne lief jetzt schneller.
Eine bohrende neue Angst hatte sich in ihr verbissen. Diese Angst hatte sich mit dem Mann am Gartenzaun eingestellt. Dem Mann, den sie nicht kannten, der jedoch Kristiane bei ihrem Vornamen genannt hatte. Mit der permanenten Unruhe, die sie seither quälte, war sie ganz allein. Isak behandelte Kristiane wie ein widerstandsfähiges, normales Kind und lachte jede Sorge weg. Yngvar hatte Inger Johanne bisher immer getröstet, aber jetzt war er nicht mehr so geduldig. Sein resigniertes Gesicht, sowie sie auch nur andeutete, mit ihrer Tochter könne etwas nicht so sein, wie es sein sollte, ließ sie immer häufiger verstummen. Sie hatte zu viel gelesen, damit versuchte sie sich zu beruhigen. Ihr ganzes Wissen, das sie sich im Laufe der Jahre mit Kristiane angeeignet hatte, war zu einer Last geworden. Während Ragnhild bereits wusste, dass Fremde gefährlich sein konnten, machte Kristiane oft keinerlei Unterschied. Sie würde sich einfach von jedem entführen lassen.
Sexualverbrechern.
Organdieben.
Sie durfte nicht so denken. Immer, immer wurde auf Kristiane aufgepasst.
Sie näherte sich dem Auto. Es konnte kaum eine Stunde her sein, seit sie es abgestellt hatte. Trotzdem war es total eingeschneit. Außerdem war ein Räumfahrzeug vorübergekommen und hatte neben dem alten Golf in der schmalen Einbahnstraße eine Sperre aus Schnee angehäuft.
Inger Johanne blieb stehen. Im Auto lag kein Spaten. Und ihre Fausthandschuhe hatte sie im Büro der stellvertretenden Schulleiterin vergessen.
Zum ersten Mal wagte sie, den Gedanken zu Ende zu denken.
Sie wurden überwacht.
Nicht sie alle.
Kristiane.
Die Familie Vik Stubø hatte niemals Vorhänge vor den Wohnzimmerfenstern gehabt. Von der Straße aus konnte nicht viel gesehen werden, und das Zimmer wirkte ohne Vorhänge heller. Seit den letzten Tagen stellte sich Inger Johanne nun aber leichte Gardinen vor. Einen Sichtschutz gegen die, die sie nicht kannte, die aber dort draußen waren. Der rationale Teil ihres Gehirns wusste, dass ein Mann an einem Gartenzaun, ein freundlicher Gesprächspartner in einem Teddybärenladen und ein verschwundener Ordner in einer Schule noch keine Verfolgung bedeuteten. Ihr Innerstes sagte ihr etwas ganz anderes.
Wütend, mit bloßen Händen, fing sie an, den Schnee vom Auto zu wischen. Ihre Finger starben schnell ab, aber sie hörte erst auf, als der Wagen vom Schnee befreit war. Dann trat sie die vom Räumfahrzeug hinterlassene Schneewehe weg. Ihre Zehen brannten und ihre Knöchel schmerzten, als sie es endlich für möglich hielt, wegzufahren.
Sie ließ sich auf den Fahrersitz fallen, steckte den Schlüssel ins Zündschloss und drehte ihn herum.
Mit viel zu hoher Umdrehungszahl kämpfte sie sich auf die Straße hinaus, über den Schnee, den sie nicht hatte entfernen können. Sie schaltete und fuhr doppelt so schnell wie erlaubt. Bei der ersten Kreuzung wurde ihr klar, was sie da tat, und sie konnte gerade noch auf die Bremse treten, um einen Zusammenstoß mit einem von rechts kommenden Lastwagen zu verhindern.
Sie blieb vornübergebeugt sitzen, beide Hände auf dem Lenkrad. Das Adrenalin ließ ihren Kopf glasklar werden. Für einen Moment sah sie das Absurde an der Vorstellung, jemand könnte ein Interesse daran haben, ein seltsames vierzehn Jahre altes Mädchen aus Tåsen zu überwachen.
Als sie ihr Auto in Gang gebracht hatte, war sie gleich wieder so besorgt wie vorher.
»Mach dir keine Sorgen, dass nicht genug zu tun ist«, sagte die Sekretärin zuckersüß und reichte Kristen Faber einen Ordner. »Dass ein Mandant nicht auftaucht, schafft Platz für andere Dinge. Du könntest zum Beispiel die Papiere auf
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