Gotteszahl
drängte eine Gruppe festlich gekleideter Menschen aus dem Haupteingang. Die meisten blieben auf der großen Treppe stehen, stießen mit Champagner an und bewunderten die Aussicht. Drei Männer hatten die Arme voller Feuerwerksraketen und stolperten um die Ecke, um die Dinger auf dem Parkplatz abzuschießen.
»Hier ist es sogar noch schöner als bei mir«, keuchte Tuva.
Auf dem Fjord heulten jetzt die Boote. Hinter Synnøve und Tuva jubelten die Gäste vor Begeisterung über das Feuerwerk, über das Fest, über das neue Jahr. Der Himmel leuchtete. Es funkelte und knisterte vor ihnen und über ihnen, es piepste und kreischte, heulte und knallte.
»Ein gutes neues Jahr«, sagte Tuva vorsichtig und legte den Arm um Synnøve.
Sie gab keine Antwort. Sie lehnte sich über das Geländer und starrte auf Oslo hinab. Das Jahr 2009 war nur einige Sekunden alt, und wenn ihre Gefühle jetzt für das neue Jahr typisch waren, würden es zwölf entsetzliche Monate werden.
Was sie natürlich nicht ahnen konnte, war, dass Marianne Kleive sich ziemlich genau 8100 Meter von ihr entfernt befand. Doch wenn sie es gewusst hätte, wäre ihre Stimmung wohl kaum besser geworden.
Zum ersten Mal in ihrem Leben weinte Synnøve Hessel sich in ein neues Jahr hinein.
Erik Lysgaard hatte Lukas versprochen, nicht zu weinen.
»Vater. Vater!«
Erik zuckte zusammen. Er hatte zunächst nicht mit dem Sohn nach Hause fahren wollen. Erst als Lukas gedroht hatte, mit der ganzen Familie am Nubbebakken zu erscheinen und dort eine kleine Feier für die Kinder zu veranstalten, hatte er nachgegeben und versprochen, nicht zu weinen. Er hatte nicht versprochen, etwas zu sagen.
Die Kinder waren endlich eingeschlafen. Lukas’ Frau Astrid stand im Morgenmantel in der Tür zum Flur. Sie lächelte ihren Schwiegervater müde an und hob die Hand zu einem Gute-nachtgruß. Der Abend war eine Qual gewesen.
Lukas trug einen blau gestreiften Schlafanzug und Filzpantoffeln an den bloßen Füßen. Er hockte neben dem Sessel des Vaters, berührte ihn aber nicht. »Hast du geschlafen?«
»Ja. Offenbar. Bin ein wenig eingenickt, als ihr im Badezimmer wart.«
»Jetzt musst du auch schlafen gehen. Ich habe das Gästezimmer für dich bereit gemacht.«
»Will lieber hier sitzen, Lukas.«
»Das geht nicht, Vater. Du musst ins Bett.«
»Das bestimme ich selbst. Ich sitze hier gut.«
Lukas stand auf. »Du benimmst dich, als ob du der Einzige wärst, der trauert«, sagte er müde. »Ich erkenne dich nicht wieder, Vater. Du bist ein Superegoist. Du siehst nicht, dass ich leide, du siehst nicht, dass die Kinder ihre Oma vermissen, du siehst nicht, dass …«
»Doch. Das sehe ich. Ich kann nur nichts daran ändern.«
Lukas wanderte durch das Schlafzimmer. Blies eine Kerze auf der Fensterbank aus. Hob einen Teddy vom Fußboden auf und setzte ihn ins Bücherregal. Kaute an seinen Nägeln. Draußen war es ganz still. Aus dem Badezimmer hörte er, wie Astrid die Klospülung betätigte, und er hörte das leise Geräusch, mit dem sie die Schlafzimmertür hinter sich zuzog.
»Warum hast du nicht gelogen?«, fragte er plötzlich.
Der Vater schaute auf. »Gelogen?«
»Warum hast du nicht einfach einen Grund dafür erfunden, dass Mutter abends weggegangen ist? Dass sie frische Luft schnappen wollte, zum Beispiel. Von mir aus, dass ihr euch gestritten habt. Irgendwas. Warum hast du der Polizei gesagt, dass sie das nichts angeht?«
»Weil es stimmt. Wenn ich mir etwas ausgedacht hätte, wäre das eine Lüge gewesen. Ich lüge nicht. Es ist wichtig für mich, nicht zu lügen. Gerade du müsstest das doch wissen.«
»Aber sich wie eine Auster zu verhalten, das ist ganz in Ordnung?«
Lukas machte eine resignierte Handbewegung. »Papa, warum …«
Er verstummte, als der Vater ihn plötzlich anstarrte, mit etwas in den Augen, das einem Lächeln ähnelte. »Du hast mich mit zehn Jahren zuletzt Papa genannt«, sagte er.
»Ich muss dich etwas fragen.«
»Du bekommst keine Antwort. Das weißt du doch inzwischen. Ich sage dir nicht, warum Mutter aus dem Haus …«
»Das nicht«, sagte Lukas rasch. »Es geht um etwas anderes.«
Der Vater sagte nichts, behielt aber Blickkontakt zu seinem Sohn.
»Ich habe immer so eine Ahnung gehabt«, sagte Lukas vorsichtig, »dass ich Mutter mit jemandem teilte.«
»Wir haben Mutter mit Jesus geteilt.«
»Das habe ich nicht gemeint.«
Lukas setzte sich aufs Sofa. Es war so tief, dass es mühsam war, sich vorzubeugen. Er war jetzt zu angespannt,
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