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Gotteszahl

Gotteszahl

Titel: Gotteszahl Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Anne Holt
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von oben bis unten mit Schränken bedeckt. Graue emaillierte Metallschränke mit Türen. Inger Johanne schaute sich den, auf den Live Smith gezeigt hatte, genauer an. Das Schloss wirkte solide. Sie beugte sich noch weiter vor und blickte aus zusammengekniffenen Augen über ihre Brillengläser. »Da ist ein kleiner Kratzer«, sagte sie nach einigen Sekunden. »Ist der neu?«
    »Ein Kratzer? Lass mal sehen.«
    Gemeinsam musterten sie das Schloss.
    »Ich kann nichts sehen«, sagte Live Smith.
    »Hier«, sagte Inger Johanne und zeigte mit einem Kugelschreiber darauf. »Siehst du?«
    Live Smith beugte sich vor und sah aus wie eine aufgeregte Maus. »Nein …«
    »Doch.«
    »Ich kann jedenfalls nichts sehen!«
    Inger Johanne seufzte. »Kannst du bitte öffnen«, sagte sie.
    Diesmal gab Live Smith sich ohne weitere Diskussion geschlagen. Der riesige Schlüsselbund klirrte wieder, und sie öffnete die Tür.
    Der Schrank war innen in sechs Schubladen unterteilt. Jede mit einem verschließbaren Schloss versehen.
    »Das ist die Schublade, in der Kristianes Ordner gelegen hat«, sagte sie und zeigte auf die oberste.
    Beim besten Willen konnte Inger Johanne keine Spuren eines Einbruchs erkennen. Sie untersuchte das kleine Schlüsselloch von allen Seiten. Der Schubladenschrank war zwar alt und hier und da war die Emaille abgeplatzt. Aber das Schloss schien nicht angerührt worden zu sein.
    »Danke«, murmelte sie.
    Live Smith machte den Schrank zu und schloss ihn ab. »So«, sagte sie erleichtert, als alles abgesperrt war. »Es tut mir wirklich leid, dass ich grundlos Alarm geschlagen habe.«
    »Nicht doch«, sagte Inger Johanne und rang sich ihrerseits ein Lächeln ab. »Sicher ist sicher. Danke.«
    Sie stand schon an der Tür. Erst jetzt ging ihr auf, dass sie ihren Mantel trug. Ihr war warm, sie war fast in Schweiß gebadet. »Ruf mich an, falls der Ordner wieder auftaucht«, bat sie.
    »Sobald er wieder auftaucht«, korrigierte die stellvertretende Schulleiterin lachend. »Das werde ich natürlich. Ich muss übrigens auch noch sagen dürfen, dass es eine Freude ist zu sehen, welche Fortschritte Kristiane macht.«
    Die ältere Frau schien eine Persönlichkeitsveränderung durchzumachen. Verschwunden war das alberne Lächeln. »Sie ist ein faszinierendes Mädchen«, sagte sie jetzt. »Das Besondere an Kristiane ist ihre Unvorhersagbarkeit. Ich habe schon viele Autisten hier an der Schule gehabt, aber …«
    »Kristiane ist keine Autistin«, sagte Inger Johanne rasch.
    Live Smith zuckte mit den Schultern.
    Aber sie lächelte nicht. »Autismus, Asperger oder nur … besonders. Es spielt kaum eine Rolle, wie man es nennt. Mir geht es darum, dass es eine Freude ist, sie hier zu haben. Sie hat eine phantastische Fähigkeit zum Lernen – und nicht nur zum Büffeln. Sie kann die seltsamsten Fragen stellen, die, wenn man auf ihre eigenen Prämissen eingeht, umwerfend logisch sein können.«
    Jetzt war ihr Lächeln echt. Sie lachte sogar, ein frohes, perlendes Lachen, das Inger Johanne noch nie gehört hatte. Dafür, dass sie über die Familie so wenig wusste, kannte sie Kristiane ungeheuer gut.
    »Aber das alles weißt du ja. Ich will nur sagen, dass nicht nur die, die sie unterrichten, Kristiane so gern haben. Sie ist uns allen wichtig, und wir lernen jeden Tag etwas Neues von ihr.«
    Inger Johanne zog an ihrem Schal. Es schmeckte nach Salz, als sie ihre Zunge über die Oberlippe fahren ließ. »Danke«, sagte sie leise.
    »Ich muss mich bedanken. Ich habe die schönste Arbeit der Welt, und Kinder wie deine Tochter sorgen dafür, dass ich für jeden Tag hier in der Schule dankbar bin. So viele von unseren Kindern stoßen überall auf Begrenzungen. Oft gehen sie drei Schritte vor und zwei zurück. Aber bei Kristiane ist das anders.«
    »Ich muss los«, sagte Inger Johanne.
    »Natürlich. Du findest doch allein nach draußen?«
    Inger Johanne nickte und öffnete die Tür. Als sie sie hinter sich ins Schloss fallen ließ, stieg ihr der Geruch der grünen Seife auf unangenehme Weise in die Nase. Sie lief durch den langen Gang. Ihre Stiefel quietschten auf dem frisch gebohnerten Linoleum. Als sie endlich die gläsernen Ausgangstüren erreicht hatte, konnte sie sie gar nicht schnell genug öffnen.
    Die Winterkälte schlug ihr entgegen und erleichterte das Atmen. Sie schob die Hände in die Manteltaschen.
    Endlich hatte das Wetter sich geändert.
    Der anhaltende Frost hatte den Boden hart und bereit gemacht für den trockenen, luftigen

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