Gotteszahl
nach der Katze aus. »Jetzt kommst du sofort her!«
Sie merkte, dass sie keinen Bodenkontakt mehr hatte. Wenn sie sich am Rahmen des altmodischen viergeteilten Fensters festhielt, dann könnte sie vielleicht die andere Hand weit genug ausstrecken, um die Katze im Nacken zu packen. Der eiskalte Wind fuhr über ihre nackten Unterarme, und sie klapperte mit den Zähnen. »Pussi«, konnte sie ein letztes Mal sagen, dann verlor sie das Gleichgewicht und fiel.
Da sie im zweiten Stock wohnte und mit Kopf und linker Schulter voran auf den Asphalt aufprallte, war sie sofort tot. Weil sich im Haus gegenüber gerade ein Mann aus dem Fenster lehnte und rauchte, wurde die Polizei umgehend verständigt. Und da der Mann ihren Namen nennen konnte, während Trudes Wohnung von innen mit einer Sicherheitskette verschlossen war, gab es niemals einen Grund, in dieser Sache weiter nachzuforschen. Ein Unfall eben. Wie das so geht.
Am 31. Dezember 2008, anderthalb Stunden ehe ein neues Jahr begrüßt wurde, gab es auf der ganzen Welt keinen einzigen Menschen mehr, der einen Gedanken an Runar Hansen senden könnte. Er wurde am 19. November desselben Jahres in einem Park in der Oststadt ermordet, einundvierzig Jahre alt. Nach dem Tod seiner Schwester war er nicht einmal mehr eine zugedröhnte Erinnerung.
Auch um Pussi, die Katze auf dem Gesims, kümmerte sich niemand mehr.
Synnøve Hessel streichelte über den Rücken der fetten Katze. Die machte es sich auf ihrem Schoß bequem, und das leise Schnurren rasselte auf niedriger Frequenz bei jedem Atemzug. In diesem Geräusch und in der totalen Hingabe der Katze, die jedes Mal, wenn das Streicheln aufhörte, mit dem Kopf gegen Synnøves Hand stieß, lag etwas Beruhigendes.
»Ich bin so froh, dass ich kommen konnte«, sagte sie.
»Das wäre ja auch noch schöner gewesen«, sagte die Frau, die mit einer Bierflasche in der anderen Ecke des Sofas saß. »Hatte auch nicht so verdammt viel Lust zum Feiern.«
Die Wohnung war wirklich beeindruckend, obwohl Marianne sie bei ihrem letzten Telefongespräch mit Synnøve beschrieben hatte. Marianne war am Freitag, dem 19. Dezember, nachmittags bei Tuva im Grefsenkollvei gewesen. Es war acht Uhr abends geworden, und Marianne hatte vor der langen Reise so erwartungsvoll gewirkt. Synnøve hatte versucht, ihre Enttäuschung darüber zu verbergen, dass sie nicht gemeinsam Weihnachten feiern würden, aber es war ihr nicht ganz gelungen. Ein spitzer, kühler Ton hatte sich in ihr Gespräch eingeschlichen.
Ihr wurde klar, dass der Abschied am Telefon sie schon darauf hätte vorbereiten können, dass Mariannes SMS so kurz und kalt gewesen waren. Jedenfalls die erste.
»Hast du denn feststellen können, ob sie im Hotel war?«, fragte Tuva zum dritten Mal in knapp einer Stunde.
»Ja, sicher. Sie ist angekommen, hat eingecheckt und die Rechnung bezahlt. Und damit enden alle Spuren.«
Sie schauderte und schob die Katze auf den Boden. »Damit enden alle Spuren«, wiederholte sie. »Das klingt wie aus einem Kriminalroman.«
Das Wohnzimmer war nicht groß, aber die Aussicht durch die riesigen Fenster gab der Wohnung etwas Exklusives. Alle Möbel waren zu dem geräumigen Balkon hin ausgerichtet, und von ihrem Platz aus konnte Synnøve über ganz Oslo blicken. Sie erhob sich.
»Wollen wir einen Spaziergang machen?«, fragte Tuva.
»Jetzt? Nur eine Stunde vor Mitternacht?«
Synnøve stand am Fenster. Der grüne Wohnblock hatte von außen entsetzlich ausgesehen. Ein riesiger Legoklotz, der mit einer Seite an einer ausgesprengten Felswand klebte. Als sie aber das Wohnzimmer im zehnten Stock betreten hatte, konnte sie die kindliche Begeisterung ihrer Freundin für diese neue Wohnung verstehen.
Synnøve hatte Oslo nie so schön erlebt.
Die Stadt mit ihren funkelnden Lichtern lag vor ihr wie eine von Gott erschaffene Weihnachtsdekoration, umgeben von dunkleren Hügeln und schwarzem Meer. Immer häufiger explodierten vor dem Himmel Raketen. Synnøve und Tuva hatten einen Logenplatz für die Show, die in knapp einer Stunde beginnen würde.
»Von mir aus«, sagte sie und zuckte mit den Schultern.
Fünf Minuten später gingen sie zum Grefsenåsen hinauf. Die Kälte schnitt ihnen in die Gesichter. Sie hatten sich dick angezogen, anders als die vielen Menschen, die in Festkleidung und eleganten Schuhen unterwegs waren. Eine Bande von Jungen, etwa zwölf, dreizehn Jahre alt, amüsierte sich damit, Chinaböller in eine Gruppe von jungen Frauen zu werfen, die
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