Gotteszahl
so genug zu tun. Es ist seine Sache, wenn er es nicht mal nötig hat, abzusagen.«
Er packte den großen Koffer, den er bei seinem Eintreffen einfach losgelassen hatte, und verschwand, ohne die Tür hinter sich zu schließen. Er hatte sich mit keinem Wort danach erkundigt, wie seine Sekretärin Weihnachten verbracht hatte, in Thailand mit Kindern und Enkelkindern. Sie blieb sitzen und lauschte auf seine Schritte auf der Treppe. Der Koffer knallte gegen jede Stufe. Es klang, als hätte er drei Beine und hinkte.
Dann wurde es endlich still.
Der dichte Schnee dämpfte alle Geräusche. Noch immer schien der Weihnachtsfriede über der ganzen Gegend zu ruhen. Rolf Slettan hatte beschlossen, zu Fuß von der Arbeit nach Hause zu gehen, auch wenn die Tierarztpraxis in Skøyen und das Haus auf Holmenkollåsen anderthalb Stunden auseinander lagen. Die Bürgersteige waren von einem halben Meter Pulverschnee bedeckt, und die letzten beiden Kilometer musste er auf dem schmalen Streifen zurücklegen, den das Räumfahrzeug auf der Straße hinterlassen hatte. Die wenigen Autos, die ab und zu angerutscht kamen, zwangen ihn immer wieder, auf die Schneehaufen zu klettern. Er keuchte und schwitzte. Bei der letzten Biegung fing er trotzdem an zu rennen.
Aus der Ferne sah das Haus aus wie einem Nazifilm entsprungen. Die weiße Schneehaube über dem Tor hing über die Ränder und verbarg halbwegs die eingeschnitzten Buchstaben: »Es ist schön, verreist zu sein, noch schöner ist ’ s im trauten Heim.« Hohe Schneewehen umkränzten den Hofplatz, der in wenigen Stunden wieder geräumt werden müsste.
Er blieb auf dem Wendeplatz vor dem Portal stehen.
Marcus konnte noch nicht zu Hause sein. Eine zehn Zentimeter dicke Schicht von jungfräulichem Schnee bezeugte, dass hier schon eine ganze Weile niemand gekommen oder gegangen war. Cusi hatte mit einem Klassenkameraden nach Hause gehen wollen, er würde erst gegen acht Uhr wieder bei ihnen sein. Das Haus lag still und dunkel da, aber die vielen schmiedeeisernen Hoflampen leuchteten freundlich und ließen den Schnee glitzern. Das mit Grassoden bedeckte Dach war unter dem Schnee verschwunden. Die Drachen schienen an den Giebelseiten die Zunge herauszustrecken und jederzeit mit ihren neuen weißen Flügeln abheben zu können.
Er klopfte sich den Schnee von den Hosenbeinen, als eine Reifenspur seine Aufmerksamkeit erregte. Ein Wagen hatte vor dem Portal im Schnee einen tiefen Bogen hinterlassen. Als er in die Hocke ging, konnte er das Profil der Reifen noch erkennen. Vermutlich war jemand an die Seite gefahren, um ein Fahrzeug aus der anderen Richtung vorbeizulassen. Als er sich aufrichtete, konnte er die Reifenspur noch bis zur Straße erkennen.
Seltsam.
Er machte zwei Schritte, vorsichtig, um die Spur nicht zu zerstören. Diese wurde plötzlich undeutlicher. Nach einem weiteren halben Meter war sie fast verschwunden. Nur die vage Andeutung eines Reifenabdrucks zog sich auf die Fahrbahn hinaus.
Rolf Slettan drehte sich um und folgte den Spuren in die andere Richtung. Dort waren sie ebenso deutlich wie in der Mitte. Mit einer Unruhe, die er nicht ganz erklären konnte, ging er zurück zum Ausgangspunkt der Spuren, folgte ihnen vorsichtig auf den kleinen Hofplatz und dann weiter bis zu der Stelle, wo sie in andere Abdrücke auf der Straße übergingen. Zwischen der Straße und ihrem eigenen Grundstück gab es keinen Unterschied in der Schneehöhe. Rolf und Marcus hatten das Schneeschippen einer Firma übertragen, die zweimal pro Tag mit einem Traktor anrückte. Der war offenbar gleich nach dem städtischen Räumfahrzeug dortgewesen.
Er wusste nicht so recht, wonach er suchte. Plötzlich wurde ihm klar, dass der Wagen eine Weile hier gestanden haben musste. Der Unterschied in der Schneedichte war zu auffällig. Der Spurenbreite konnte er ansehen, dass es sich um einen Personenwagen gehandelt hatte. Auf jeden Fall nicht um einen LKW oder ein größeres Fahrzeug. Es musste von unten gekommen sein, dann war es an den Straßenrand gefahren und hatte eine Weile gewartet. In dieser Zeit war Schnee zwischen die Hinterreifen geweht worden, im Windschatten des Autos aber waren die Spuren nicht so verwischt wie weiter hinten.
Plötzlich wurde ein Motor angelassen. Rolf Slettan schaute auf und sah gerade noch oben an der Straße einen Wagen aus der Busnische vor der Kurve nach Osten fahren. Schneetreiben und Dämmerlicht machten es unmöglich, das Nummernschild zu lesen. Aus einem Impuls heraus lief
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