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Gotteszahl

Gotteszahl

Titel: Gotteszahl Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Anne Holt
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streifte die Schuhe ab und ging, um sich eine Tasse zu holen.
    Inger Johanne schloss die Augen. Die unerklärliche Angst steckte ihr noch immer in den Knochen, aber es hatte geholfen, einen lärmenden Nachmittag mit den Kindern zu verbringen. Ragnhild, die am 21. Januar fünf Jahre alt wurde und nun über nichts anderes mehr redete, hatte für alle ihre Teddys und Puppen einen Probegeburtstag veranstaltet. Inger Johanne und Kristiane hatten beim Essen Hüte tragen müssen, die aus Ragnhilds Unterhosen und Hannah-Montana-Aufklebern hergestellt worden waren. Kristiane hatte einen langen Vortrag über den Lauf der Planeten um die Sonne gehalten und verkündet, dass sie Astronautin werden wolle. Da Kristianes Zeitbegriff manchmal schwer zu verstehen war und da sie nur selten Interesse für etwas zeigte, was länger als zwei Tage in der Zukunft lag, hatte Inger Johanne begeistert alle Bücher von früher hervorgeholt, als sie genau denselben Traum gehegt hatte.
    Als die Kinder im Bett lagen, stellte die Unruhe sich wieder ein.
    Um sie in Schach zu halten, beschloss sie, zu arbeiten.
    »Erzähl«, sagte Yngvar und ließ sich in einen Sessel fallen.
    Er hielt sich die Teetasse ans Gesicht und der Dampf machte sein Gesicht unscharf.
    »Worüber denn?«
    »Über Hass.«
    »Darüber weißt du ja wohl mehr als ich.«
    »Red keinen Unsinn. Es interessiert mich, was du machst.«
    Sie trank einen Schluck. Die Teemischung war frisch und leicht und säuerlich. »Ich dachte«, sagte sie langsam, »ich könnte mich dem Begriff Hass von außen her nähern. Auch von innen, natürlich, aber um etwas Sinnvolles über Hasskriminalität sagen zu können, müssen wir wohl in die Tiefe des Begriffs sehen. Bei all dem Geld, mit dem wir plötzlich überschüttet werden …«
    Sie schaute auf, wie um nach diesem Geld Ausschau zu halten, »… kann ich zum Beispiel dieses Mädchen einbeziehen, von dem ich erzählt habe.«
    »Mädchen?«
    »Charlotte Holm. Ideengeschichtlerin. Die, von der ich erzählt habe, sie hat geschrieben …«
    Sie schaute sich kurz um, fand ein Heft und hielt es hoch. » Liebe und Hass – eine ideengeschichtliche Analyse « , las Yngvar langsam.
    »Spannend«, sagte Inger Johanne und ließ das Heft fallen. »Ich habe mit ihr gesprochen, und wahrscheinlich fängt sie schon im Februar bei mir an.«
    »Wie viele seid ihr denn dann?«, fragte Yngvar und runzelte die Stirn, als wecke die Vorstellung, dass eine Bande von Forscherinnen das Geld der Steuerzahler nutzen würde, um sich in Hass zu vertiefen, gewaltige Skepsis bei ihm.
    »Vier - vermutlich. Das wird lustig. Hab bisher immer fast allein gearbeitet. Und das hier …«
    Sie hob mit einer Hand ein Blatt Papier und ließ die andere einen Bogen über die verstreuten Unterlagen beschreiben. »Das alles ist der legale Hass. Der mündliche Hass, der durch die Meinungsfreiheit beschützt wird. Da die hasserfüllten Äußerungen über Minderheiten in hohem Grad mit den Motiven dafür zusammenfallen, was einwandfrei als Hasskriminalität gelten muss, finde ich es interessant, mir die Zusammenhänge anzusehen. Wo die Grenzen liegen.«
    »Die Grenzen wofür?«
    »Für das, was von der Meinungsfreiheit gedeckt wird.«
    »Ist das nicht so ungefähr alles?«
    »Doch. Leider.«
    »Leider? Wir können doch den Göttern danken, dass wir hierzulande sagen dürfen, was wir wollen.«
    »Natürlich.  Aber hör jetzt her …«
    Als er nach Hause gekommen war, wäre er am liebsten sofort ins Bett gefallen, obwohl es noch nicht einmal zehn Uhr war. Im Laufe der Jahre hatten Inger Johanne und er ein Kommunikationsmuster entwickelt, bei dem es vor allem um seine Arbeit und ihre Sorgen um die Kinder ging. Wenn er sie jetzt sah, in einem Meer aus Unterlagen, ohne die Kinder auch nur zu erwähnen, fiel ihm wieder ein, wie es gewesen war, heftig verliebt in sie zu sein.
    »Die Meinungsfreiheit reicht weit«, sagte sie, während sie im Chaos einen Artikel suchte. »Wie es ja auch richtig ist. Aber es gibt eine Reihe von Einschränkungen. Die interessanteste ergibt sich aus dem Paragrafen 135a des Strafgesetzbuchs. Ich will dich nicht mit allzu viel Juristerei langweilen, sondern nur …«
    »Du langweilst mich nicht. Nie.«
    »Doch.«
    »Jetzt jedenfalls nicht.«
    Ein rasches Lächeln, dann redete sie weiter. »Nur sehr wenige sind je wegen eines Verstoßes gegen diesen Paragrafen verurteilt worden. Sehr, sehr wenige. Die Streitfrage, oder vielleicht sollte ich lieber sagen, die Abwägung,

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